Der 26. Monat – Russische Lehranstalt

Das Du bilingual aufwächst versteht sich von selbst; daß Deutsch aber wohl Deine primäre Sprache werden wird steht nicht für beiden Elternteile fest. Einer russischen Mutterseele – die einer Großmutter im übrigen nicht weniger – treibt es wahrscheinlich gefühlten sibirischen Eiswind ins Gesicht bei der Vorstellung das möglicherweise Deine Russischkenntnisse nicht genügend befördert werden könnten. Für die korrekte Verbalwiedergabe derlei Befürchtungen ist ein einziger Konjunktiv im Grunde viel zu schwach.

Es dauert also nur wenige Monate und wir schauen uns die erste “Russische Schule” an. Meine Einwände aus der Rubrik “Möglicherweise ist es noch etwas früh für eine Schule – Du bist ja erst zwei Jahre.” kontert Deine Mutter eloquent mit dem Hinweis auf Deine unstillbare Wissbegierigkeit aus. Bis dahin dachte ich immer das sei übliche kindliche Neugierde, aber so habe ich schon wieder etwas gelernt. Das Unverständnis ob dieses Einwandes im Gesicht Deiner Mutter kann sich jeder vorstellen, der sie kennt – alle anderen rufen sich jetzt bitte eine Polarexpedition ins Bewusstsein, die zur Sicherheit einen Kühlschrank mitführt, damit der Proviant nicht warm wird. Kurzum diese Institution scheint gesetzt zu sein und ich beschließe vorurteilsfrei an die ganze Sache heranzugehen.

Das ist nicht ganz einfach als mir eine wuchtige Endvierzigerin in einem Bürogebäude die Tür öffnet und uns etwas zu herzlichst willkommen heißt. Ich gebe zu, der Eindruck von außen täuscht und im Inneren des Reichs von Doppel D Ludmilla sieht es aus, wie in jedem anderen Kindergarten auch. Ihre Notizkladde wird von einem Davidstern dekoriert und sie tippt – gewiss absolut unbewusst – unaufhörlich darauf herum.

Was nun folgt entspricht in etwa dem, was ich mir als mögliches “Worst-Case-Szenario” ausgemalt habe. Der Fleischberg mit Rüschenbluse und Brokatweste erläutert mit tiefer Inbrunst und ebenso gleicher Stimme die unverzichtbare Notwendigkeit Kindern Wissen zu vermitteln und dieses besonders zu festigen. Die Nachhaltigkeit Ihrer Intension manifestiert sich für sie in Hausaufgaben bei deren Nichterledigung die entsprechenden Eltern zum Rapport einbestellt würden. Ich bin überzeugt in einer Vorschule für Nachwuchsdiktatoren gelandet zu sein. Langsam fängt es mir an Spaß zu machen, da eine Entscheidung gegen diese Rohrstockinstitution längst gefallen ist. Also frage ich nach, warum denn auch so kleine Kinder schon Hausaufgaben auferlegt bekommen und lasse nicht unbemerkt, daß mir ein spielerischer Umgang mit dem Bildungsauftrag durchaus sympathischer ist. Das ist zu viel für Fräulein Rabiata und sie verfällt in einen noch resoluteren Kasernenhofton. “Sehen Sie, mein Herr – vielleicht wissen sie das ja nicht, aber ich bin Jüdin und gerade jüdische Kinder müssen immer besser sein als alle anderen.” Und da könnte etwas rigide Strenge eben gar nichts schaden. Aber es kommt noch besser. Sie fragt mich in leicht mitleidigen Unterton ob ich denn Herrn Bismarck kennen würde. Die wenig geistreiche Nachfrage nach demjenigen mit den Fischen spare ich mir gerade noch und antworte höflich und mit absichtlich leisen Ton, daß Sie getrost davon ausgehen dürfe, in mir jemanden zu sehen, dem die Eckdaten europäischer Geschichte geläufig sind und ich somit im Bilde um die Persönlichkeit des ersten deutschen Reichskanzlers sei. Da strahlt das rigorose Fräulein und erklärt voll begeisternder Inbrunst, daß sich Ihre pädagogische Einrichtung an den Idealen, Werten und Vorstellungen des Deutschland im späten 19. Jahrhundert orientiert.

Eine Familie mit liberalen Grundwurzeln steht also vor einer kaisergetreuen, jüdischen Migrantin aus der ehemaligen Zarenstadt St. Petersburg (das war wohl der Grund, warum Deine Mutter recht lange zu ihr gehalten hat) und bekommt im wahrsten Sinne des Wortes den Mund nicht mehr zu. Eine kurze Bemerkung zu den Sozialistengesetzen und der damit verbundenen politischen Intoleranz Ihres Herrn Bismarck kann ich mir einfach nicht verkneifen und erlaube mir noch ebenso höflich wie bestimmt meinem Mitleid für die hier verwahrten Kleinmonarchisten Ausdruck zu verleihen. Gekonnt stellt das stämmige Fräulein noch fest, daß wir da wohl etwas unterschiedliche Auffassungen in pädagogischen Fragen hätten. “Vielleicht ein klein wenig” entgegne ich und wir verabschieden uns freundlich, aber wohl für immer voneinander. Sie fügt noch an, daß sie es bemerkenswert findet, daß ich – trotz meiner offenkundigen Abneigung – so lange zugehört habe. Das mache ich übrigens immer so wenn mir Dinge begegnen die ich nicht verstehe. Man fühlt sich dann so herrlich bestätigt in seiner Meinung.

Ach ja und noch etwas: Du gehst natürlich trotzdem in eine “russische Schule”. Die liegt mitten im Düsseldorfer Rotlichtviertel in der obersten Etage eines Hauses auf dem noch der Werbschriftzug “Citysauna” aus den 1970er Jahren zu lesen ist. Die ersten Stunden bin ich mit Dir dorthin gegangen und wir haben mit fünf russischen Muttis und deren Nachwuchs im Kreis getanzt nachdem Luba, Deine “Lehrerin” durch eine Igelhandpuppe auf der Schulter sitzend uns genau dazu aufgerufen hat.

Aber die Bilder die Du dort malst sehen viel russischer aus als die Zuhause.

Viel Spaß in der Schule, Prinzessin.

Der 25. Monat – Baby muß Pipi

Den ersten Monat Deines neuen Lebensjahr haben wir zu nicht unbeträchtlichen Teilen auf Achse verbracht. Ein niedersächsischer Kunde Deiner Mutter hat Sehnsucht nach ihr und die Herrschaften der Toten Hosen sowie der Ärzte geben sich auf dem Flugfeld des ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof die Ehre vor knapp 60.000 Leuten zu spielen. Da müssen Deine Eltern natürlich hin. Ach ja: Urlaub wollen wir auch noch machen.

Also rollt der Familienkleinbetrieb zunächst ans Steinhuder Meer und Deine Mutter geht von hier aus täglich zur Arbeit während wir beide die hiesige Strandlage testen. Nebenbei bemerkt: Wer einen Siebziger Jahre Flashback braucht und die zeitlupengesteuertsten Kellnerinnen der westlichen Hemisphäre erleben möchte, dem sei das schmucke Städtchen Mardorf wärmstens empfohlen. Aber dafür gibt es eine Fischbude deren Räucherware Deine volle Zufriedenheit erreicht und in uns somit treuen Kunden gefunden hat. Zum Auftakt überreichen wir Dir Dein neues Fortbewegungsmittel in Form eines kleinen Laufrades. Das erscheint Dir allerdings äußerst suspekt und die ersten Bewegungsversuche konkurrieren in Punkto Geschwindigkeit mit denen der gerade angesprochenen Servierfachkräfte – nur brauchen die dafür noch nicht mal ein solches Rad. Glücklicherweise haben unsere Nachbarn einen Sohn ungefähr gleichen Baujahrs der die dreirädrige Modellversion sein eigen nennt, aber an Deiner Zweiradvariante größtes Interesse bekundet. Irgendwie handelt ihr beide einen Tausch aus und zwei Kinder sind glücklich. Diese Austauschverhandlungen wiederholen sich etwa im Stundentakt aber so wichtige Entscheidungen erfordern ja auch ein gesichertes Fundament.

Jedenfalls rollst Du von nun an mit Leidenschaft mit zwei oder drei Rädern über den Campingplatz. Das eigentliche Projekt dieses Sommers verschiebe ich Kraft autoritärer Willkür auf den anstehenden Strandurlaub, da ich glaube das die Windelentwöhnung zwingend an eine materne Permanenz gekoppelt sein sollte und ich durchaus gewillt bin die ein oder andere Erziehungskompetenz abzugeben.

Der Wochenendausflug nach Berlin führt zu großer Begeisterung auf allen Seiten, da Du natürlich von Mimi betreut wirst während Deine Mutter und ich mehr als erstaunt sind wieviele Eltern ihren Nachwuchs mit auf ein Punkrockkonzert schleppen – größtenteils mit Ohrenschützern aber immerhin.

Am Sonntag zur Zeit Deines Mittagsschlaf starten wir in Richtung Südfrankreich und müssen leider feststellen, das wir wohl nicht die einzigen sind die an diesem Tag unterwegs sind – jedenfalls befinden wir uns immer noch auf dem Berliner Autobahnring als Du erwachst. Mit allerlei Tricks und munterem Gesinge gelingt es uns zumindest Braunschweig zu erreichen bevor Du Dich endgültig weigerst in Deinem Autositz zu verweilen. Den ortsansässigen Zoo wählen wir kurzerhand als nachmittäglichen Verweilort aus und stellen mit Begeisterung fest wie Du auf Tiere reagierst die fünf bis zehnmal so groß sind wie Du. Solange Du sie streicheln kannst ist alles gut und so ein Kamel macht sich als Haustier gewiss ganz gut. Jedenfalls höre ich den ganzen Tag, daß eben dieses Kamel mit ins “Wohnauto” (so bezeichnest Du unseren Campingbus) muß, was mich wiederum zu der Annahme bringt, daß ein Kinderleben ohne Kamel irgendwie einen Irrtum darstellt. Ich überlege wie die Bekanntschaft mit einer Kamelhandeltreibenden Beduinenfamilie zu erreichen ist, verwerfe den Gedanke aber recht zügig, da Kamele weder durch Nadelöhre gehen noch in drittgeschossigen Etagenwohnungen Einzug halten können. Mir scheint Deine Zukunft im Wüstenschiffbereich eher unvorhersehbar, verspreche Dir aber in absehbarer Zukunft einen Ausritt auf Deinem neuen Lieblingshaustier zu ermöglichen. Vielleicht fliegen wir mal nach Marokko empfehle Deiner Mutter. “Selbstverständlich” entgegnend sie mir “und wenn sie das nächste Mal den Mond sieht, ziehen wir nach Baikonur.” Das klingt ebenso herzlos wie logisch und ich gebe mich damit zufrieden. Unterdessen hast Du auf dem Spielplatz die Riesenrutsche entdeckt und wen interessieren da noch die Kamele von vorhin.

Nach Deinem Abendbrot machen wir uns wieder auf den Weg und erreichen am folgenden Nachmittag Saint-Pierre-la-Mer unweit von Narbonne. Hier verbringen wir die nächsten zwölf Tage und beabsichtigen Dich von der Unnötigkeit der Pampers-Produkte zu überzeugen. Deine Mutter hat für selbiges Unterfangen selbstverständlich entsprechend vorgesorgt und eine recht interessante Konstruktion erworben. Mittels einer kleinen Leiter kannst Du selbstständig die Toilette unseres Campingbus erreichen und dort oben befindet sich eine kindergerechte Verkleinerung der Sitzfläche.

Diese neue Errungenschaft findet gehörigen Anklang bei Dir und die nächsten Tage verbringen wir nicht selten vor eben dieser Konstruktion. Ganz gleich ob Du vorher gespielt hast, in Deinem Planschbecken umhergerudert bist oder auch in Deinem Bett liegst. Es vergehen wenige Minuten und unser neuer Liebligssatz erschallt: “Baby muß Pipi!”! Unsere anfängliche Begeisterung ob Deiner raschen Auffassungsgabe weicht recht schnell der ernüchternden Feststellung, daß es weit weniger um die Toilettenaktion als solche geht, sondern Du vielmehr offenkundig einen ordentlichen Unterhaltungswert darin erkennst, Deine Eltern dazu zu bewegen nach dem ausgesprochenen Schlüsselsatz augenblicklich alles stehen und liegen zu lassen um Dich ins Badezimmer zu verfrachten und vor besagte Konstruktion zu positionieren.

Artig erkletterst Du Deinen Toilettenthron und grinst fröhlich frech in die versammelte Familienrunde. Und dann passiert meistens etwas überaus Aufregendes: Nämlich rein gar nichts. Deine Beinchen schaukeln munter umher und Du siehst überaus glücklich aus. Nur die eigentliche Sinnhaftigkeit des ganzen Unterfangens will sich nicht einstellen. Dieses heitere Familienspiel wiederholt sich mehrfach täglich. Irgendetwas läuft hier verkehrt. Deine Mutter und ich schauen uns von nun an des öfteren fragend an, kommen aber nicht wirklich zu einer befriedigenden Antwort. Also entscheiden wir uns für das Prinzip Durchhalten. Und das funktioniert ganz passabel.

Mit jedem Tag verstehst Du ein wenig mehr wozu die kleine Kletterpartie nötig ist und begeisterst Deine Eltern immer wieder aufs neue. Ganz in Deine neue Kompetenz vertrauend beschließt Deine Mutter irgendwann auf eine Windel vollends zu verzichten und beschließt Dich sozusagen unten ohne in den Tag zu schicken. Eine detailreiche Schilderungen der folgende Ergebnisse erspare ich uns allen an dieser Stelle, nur soviel: So ein Gartenschlauch tut schon gute Dienste und der Weg vor unserem Campingbus ist wieder sauber.

Am folgenden Tag entdeckst Du das Abwasserventil an unsrem Campingbus und stellst im Brustton kindlicher Überzeugung fest: “Auto macht Pipi.” Ich weiß eigentlich nicht warum, aber von nun an gestaltetet sich Deine Windelentwöhnungsphase irgendwie entspannter und alles wird gut.

Ach so, die Idee ab jetzt weniger Windeln zu benötigen hat hervorragend funktioniert. Wir brauchen jetzt etwa doppelt so viele, aber das läßt sich bestimmt irgendwie saisonbereinigt heraus rechnen. Und bevor Fragen aufkommen: Nein, ich ziehe Dir nach einem Fehlalarm nicht die gleiche Windel nochmal an.

Wo wir gerade dabei sind: Muß Baby Pipi?