Sommeranfang ist in unserer Familie für gewöhnlich begleitet von zwei wiederkehrenden Ereignissen: Dem Geburtstag Deiner Oma und Deines Onkels – konkret ausgedrückt feiert der mütterliche Teil Deiner Familie Doppelgeburtstag und das ist dann so eine Art “Jüdisch für Anfänger”.
In diesem Jahr fällt das letzte Wochenende unserer Elternzeit auf exakt diesen Familienevent. Irgendjemand kam auf die Idee uns an die südwestliche Spitze Zeelands zu beordern um dort die beiden Wiegenfeste zu begehen. Also haben wir uns Donnerstag-Abend brav aus Südfrankreich und 30 Grad Umgebungstemperatur auf den Weg nach Holland zu gefühlten Minusgraden und brachial böigem Seewind gemacht. Dort am Freitag gegen Mittag eingetroffen katapultiert uns ein gepflegter Platzregen wieder ins hier und jetzt und läßt Deine Mutter und mich mit kalter Grausamkeit das Ende unserer umhervagabundierenden Elternzeit zu deutlich erkennen. Keine guten Vorzeichen für Familienfeste – aber wir denken positiv.
Gegen neun Uhr abends schleppen Deine nahen Anverwandten eine prall gefüllte Kühlbox nebst getränketechnischen Accessoires zu uns. Alle begrüßen sich um dann gemeinschaftlich die Wetterlage zu erörtern und kollektiv eine zu geringe Außentemperatur festzustellen um im Freien Wiederkehr und Wiegenfeste zu begehen. Jüdisch selbstverständlich dauert die Feststellung nur kurz – dafür wirkt die daraus resultierende Empfindsamkeit des allgemeinen Wohlstandszustands zumindest meinerseits, umso schwerer. Heißt: Ich habe ein schlechtes Gewissen, weiß aber nicht genau warum. Draussen ist es schlicht zu kalt, hereinbitten können wir nicht alle gleichzeitig aus simplen Platzgründen und ein Nacheinander scheint mir nicht wirklich die passende Antwort auf die mäßigen Außentemperaturen. Deine Mutter kommentiert das wie gewohnt lässig mit dem Halbsatz: “In einer jüdischen Familie hat immer einer ein schlechtes Gewissen.” Das ist mir wiederum zum einen bekannt und weiterhin nicht dramatisch. Sagt sie also so und verweist auf den folgenden Tag, an dem ich ja schließlich alles wird gut machen könnte. “Was soll ich gut machen?” überlege ich kurz um anschließend mit dieser Bürde alleine gelassen zu werden. Deine Mutter beschließt sich unmittelbar nach dieser Aussage zu Dir zu legen und entlässt sich selbst äußerst rasch ins Reich der Träume.
Die Verwandtschaft verlässt das Areal und ich stehe recht verlassen da. Im August beabsichtigen wir einen neuen Campingbus zu kaufen; der ist dann größer und alle haben Platz. Bis dahin scheint eine Lösung dieser Problematik ohnehin unlösbar und ich verbanne den Gedanke der Schuldhaftigkeit fürs Erste.
Am kommenden Samstag wollen wir zusammen grillen und alle stehen pünktlich bereits zum Frühstück auf der Matte. Ein eventueller Hungertod ist an diesem Tag eher auszuschließen und so sind die beiden mitgebrachten Camping-Klapptische rasch opulent gedeckt. Zum frühen Mittag hin beschließen Dein Opa und ich das es eindeutig Zeit für das erste Glas Wein ist und lassen diesem Beschluss auch Taten folgen. Gegrillt wird an diesem Tag ausschließlich Fisch, womit sich dieser Tag in würdiger Weise an die letzten neun Wochen anschließt.
Du findest das Wiedersehen mit Oma und Opa zunächst überhaupt nicht erstrebenswert und kommentierst jedweden ihrer Annäherungsversuche mit lautstarker Ablehnung gefolgt von der unmittelbaren Einforderung mütterlicher Präsens. Der Beharrlichkeit ihrerseits widersetzt Du Dich anfangs noch recht ordentlich, erkennst dann aber wohl neben der Aussichtslosigkeit dieses Tuns auch den praktischen Nutzen und läßt Dich fortan fleißig bespaßen. Der Großelternteil ist glücklich und zufrieden, photographiert fleißig und Du wirkst nicht ganz teilnahmslos an dem ganzen Prozedere. Diese Anteilnahme Deinerseits würdigst Du mit mäßigem Appetit; einem untrüglichen Zeichen freudiger Überdrehtheit und mangelnder Schlafbereitschaft. Über diese täuschst Du uns alle aber über den Tag hinweg, entschlummerst gar friedvoll am Nachmittag um dann zum Abend hin Appetit und Ausgeruhtheit ad acta zu legen.
Schließlich magst Du aber doch noch den Einschlafritualen Deiner Mutter erliegen und entlockst Deiner Oma schließlich die Aussage “Das sei ja alles viel zu viel für Dich heute gewesen – so viele Leute auf einmal und das auch noch so lange”. Dieser Aussage habe ich nichts hinzuzufügen und melde mich freiwillig zu Deiner Nachtwache während draußen noch weiter familiengefeiert wird.
Nun über Dich zu wachen scheint mir zwingend angebracht – Schließlich habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Wie war das nochmal in jüdischen Familien?
Schalom.