Vlissingen – Fast wie Zuhause

Sommeranfang ist in unserer Familie für gewöhnlich begleitet von zwei wiederkehrenden Ereignissen: Dem Geburtstag Deiner Oma und Deines Onkels – konkret ausgedrückt feiert der mütterliche Teil Deiner Familie Doppelgeburtstag und das ist dann so eine Art “Jüdisch für Anfänger”.

In diesem Jahr fällt das letzte Wochenende unserer Elternzeit auf exakt diesen Familienevent. Irgendjemand kam auf die Idee uns an die südwestliche Spitze Zeelands zu beordern um dort die beiden Wiegenfeste zu begehen. Also haben wir uns Donnerstag-Abend brav aus Südfrankreich und 30 Grad Umgebungstemperatur auf den Weg nach Holland zu gefühlten Minusgraden und brachial böigem Seewind gemacht. Dort am Freitag gegen Mittag eingetroffen katapultiert uns ein gepflegter Platzregen wieder ins hier und jetzt und läßt Deine Mutter und mich mit kalter Grausamkeit das Ende unserer umhervagabundierenden Elternzeit zu deutlich erkennen. Keine guten Vorzeichen für Familienfeste – aber wir denken positiv.

Gegen neun Uhr abends schleppen Deine nahen Anverwandten eine prall gefüllte Kühlbox nebst getränketechnischen Accessoires zu uns. Alle begrüßen sich um dann gemeinschaftlich die Wetterlage zu erörtern und kollektiv eine zu geringe Außentemperatur festzustellen um im Freien Wiederkehr und Wiegenfeste zu begehen. Jüdisch selbstverständlich dauert die Feststellung nur kurz – dafür wirkt die daraus resultierende Empfindsamkeit des allgemeinen Wohlstandszustands zumindest meinerseits, umso schwerer. Heißt: Ich habe ein schlechtes Gewissen, weiß aber nicht genau warum. Draussen ist es schlicht zu kalt, hereinbitten können wir nicht alle gleichzeitig aus simplen Platzgründen und ein Nacheinander scheint mir nicht wirklich die passende Antwort auf die mäßigen Außentemperaturen. Deine Mutter kommentiert das wie gewohnt lässig mit dem Halbsatz: “In einer jüdischen Familie hat immer einer ein schlechtes Gewissen.” Das ist mir wiederum zum einen bekannt und weiterhin nicht dramatisch. Sagt sie also so und verweist auf den folgenden Tag, an dem ich ja schließlich alles wird gut machen könnte. “Was soll ich gut machen?” überlege ich kurz um anschließend mit dieser Bürde alleine gelassen zu werden. Deine Mutter beschließt sich unmittelbar nach dieser Aussage zu Dir zu legen und entlässt sich selbst äußerst rasch ins Reich der Träume.

Die Verwandtschaft verlässt das Areal und ich stehe recht verlassen da. Im August beabsichtigen wir einen neuen Campingbus zu kaufen; der ist dann größer und alle haben Platz. Bis dahin scheint eine Lösung dieser Problematik ohnehin unlösbar und ich verbanne den Gedanke der Schuldhaftigkeit fürs Erste.

Am kommenden Samstag wollen wir zusammen grillen und alle stehen pünktlich bereits zum Frühstück auf der Matte. Ein eventueller Hungertod ist an diesem Tag eher auszuschließen und so sind die beiden mitgebrachten Camping-Klapptische rasch opulent gedeckt. Zum frühen Mittag hin beschließen Dein Opa und ich das es eindeutig Zeit für das erste Glas Wein ist und lassen diesem Beschluss auch Taten folgen. Gegrillt wird an diesem Tag ausschließlich Fisch, womit sich dieser Tag in würdiger Weise an die letzten neun Wochen anschließt.

Du findest das Wiedersehen mit Oma und Opa zunächst überhaupt nicht erstrebenswert und kommentierst jedweden ihrer Annäherungsversuche mit lautstarker Ablehnung gefolgt von der unmittelbaren Einforderung mütterlicher Präsens. Der Beharrlichkeit ihrerseits widersetzt Du Dich anfangs noch recht ordentlich, erkennst dann aber wohl neben der Aussichtslosigkeit dieses Tuns auch den praktischen Nutzen und läßt Dich fortan fleißig bespaßen. Der Großelternteil ist glücklich und zufrieden, photographiert fleißig und Du wirkst nicht ganz teilnahmslos an dem ganzen Prozedere. Diese Anteilnahme Deinerseits würdigst Du mit mäßigem Appetit; einem untrüglichen Zeichen freudiger Überdrehtheit und mangelnder Schlafbereitschaft. Über diese täuschst Du uns alle aber über den Tag hinweg, entschlummerst gar friedvoll am Nachmittag um dann zum Abend hin Appetit und Ausgeruhtheit ad acta zu legen.

Schließlich magst Du aber doch noch den Einschlafritualen Deiner Mutter erliegen und entlockst Deiner Oma schließlich die Aussage “Das sei ja alles viel zu viel für Dich heute gewesen – so viele Leute auf einmal und das auch noch so lange”. Dieser Aussage habe ich nichts hinzuzufügen und melde mich freiwillig zu Deiner Nachtwache während draußen noch weiter familiengefeiert wird.

Nun über Dich zu wachen scheint mir zwingend angebracht – Schließlich habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Wie war das nochmal in jüdischen Familien?

Schalom.

Agde – Krabbeln, Kicken, Kurze Nächte

Selbstverständlich ist ein Meer was sich nie zu Ebbe zurückzieht – oder mediterran korrekt nicht merklich sichtbar – völlig uninteressant und demzufolge nicht weiter beachtenswert. Ganz genau so verhält es sich mit dem Mittelmeer in der Nähe von Narbonne im Süden Frankreichs. Das wiederum bedeutet keine frühmorgendlichen Emotionsausbrüche Deinerseits über fehlende Meeresbrandung. Wie ein demonstrativer Trostpreis überlässt Du uns dafür Deine neue freundliche Eigenheit: “Noch ein bisschen früher aufzustehen oder besser gesagt aufzukrabbeln – meist über Deine Mutter hinweg in meine Richtung um uns beide dann gegen halb sechs (in Worten fünfuhrdreissig) mit einem fröhlich frechem Grinsen zu wecken. “Ihr wolltet mich haben – jetzt kümmert Euch um mich.” interpretiere ich allmorgendlich Deinen Elternweckrhythmus.

Krabbeln ist per se Deine aktuell bevorzugte Fortbewegungsart und ich muss zugeben mir war bis dato nicht bewußt welche Geschwindigkeiten in der klassischen Vierfüßlerstellung zu erreichen sind. Beschränkt eine ausgebreitete Picknickdecke auf einer Wiese noch Deinen Aktionsradius – Rasen und Erdboden ist gegenwärtig noch zu geheimnisvolles Terrain – ist diese beruhigende Grenzziehung am Strand obsolet, da Sand Dein Element zu sein scheint und ferner Deine Krabbelgeschwindigkeit nochmal deutlich erhöht. Erblickst Du gar einen Hund oder manchmal ein anders Kind am Strand wird zunächst voll Freude der umliegende Sand in gekonnter Überkopf-Wurftechnik auf die dich bettende Decke befördert damit Du dann freie Bann hast und losspurten kannst.

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Erlauben sich Deine Mutter oder ich gar die Unverfrorenheit uns einige Minuten mit anderen Dingen als mit Dir zu beschäftigen tritt mit gesetzmäßiger Folge beschriebener Fall ein und unser Kind ist weg. Mein einziger und letzter Versuch in den vergangenen zwei Monaten eine Zeitung zu lesen endet am hiesigen Strand mit einem hektischen Sprint in Richtung Wellen um Dich vor Erreichen der Wasserlinie abfangen zu können, nachdem ich noch Sekunden vorher überlegt habe, wie unverantwortlich es doch ist ein kleines Kind nur mit Windel bekleidet am Strand umherkrabbeln zu lassen. Farbig gekennzeichnete Pampers könnten hier lebensrettende Maßnahmen bilden. Ich beschließe daher Zeitungslesen auf die Liste der nicht elementar exponierten Maßnahmen zu setzten und unterlasse es fortan. Das Lesen die Dummheit gefährdet kompensieren wir damit das Deine Mutter bis zum heutigen Tag unseres Trips sechs Bücher gelesen hat und damit die Familienstatistik ausreichend versorgt. Manchmal – aber wirklich nur manchmal frage ich mich warum es hier 0:6 aus meiner Sicht steht. Aber das kann natürlich unmöglich mit Dir zusammen hängen.

Apropos 0:6: Zum aktuellen Zeitpunkt ist sozusagen Halbzeit bei der Europameisterschaft, die heutzutage ganz modern EURO 2012 heißt. Die Vorrunde ist vorbei, eine Deiner Identität stiftenden Nationen ist bereits auf dem Heimweg – natürlich diejenige die es ohnehin nicht so weit dorthin hat, die andere ist glorreicher Gruppensieger geworden und unser hübsches kleines Nachbarland mit der sympathischen Nationalfarbe hat mit null Punkten überhaupt nicht auf die Kette bekommen. Kurz gesagt: Wir stehen vorm Viertelfinale und alles ist gut. Deine Mutter kann endlich Aufatmen, da ich aufhöre um sechs Uhr abends den Fernseher einzuschalten und nur gemindert ansprechbar bin. Warum es für weibliche Stammhirne so unsagbar schwer zu verstehen ist, das es Situation gibt die einfach eine permanente TV-Präsens erfordern wird wohl auf ewig unbeantwortet bleiben.

Großmütig habe ich vor Beginn des Turniers verkündet selbstverständlich nicht jedes Spiel schauen zu müssen, habe diese Einschränkung aber natürlich ausschließlich auf die letzten Gruppenspiele gemünzt, da diese ohnehin zeitgleich verlaufen und man sich für eines entscheiden muss, will man nicht ständig hin und her schalten. Wieso schauen wir Ukraine gegen Schweden, ist jenes oder welches das Rückspiel, was passiert wenn die Unentschieden spielen? Solches Fragenwerk entfällt fortan, da ich Deiner Mutter einen übersichtliche Wandturnierkalender in unseren Campingbus gepinnt habe in den sie alle Ergebnisse eintragen kann. Meist genügt schon ein zwei bis dreimaliges völlig nebensächliches Erwähnen das da doch noch der ein oder andere Eintrag fehlt und schon zückt sie Schreiberling und beginnt ihr Werk.

Das K.O.-System der nächsten Tage vereinfacht das Prozedere. Zu den zweiten Gruppenspielen warst Du natürlich schon im Bett und ich mit Deiner Mutter und dem Fernsehfussball ganz alleine. Spannend ist es schon das Deine Mutter einen gefühlten Großteil Ihrer täglich zu verwertenden 5.000 Wörtern ausgerechnet auf die Zeit zwischen An- und Abpfiff platziert und allerlei weltbewegende Dinge zu besprechen hat.

Vor Freistößen ist grundsätzlich Salat zu waschen, bei Ecken der Einkaufsplan der nächsten Tage zu diskutieren und zu Nachspielzeiten kann man irgendetwas aufräumen, muss man aber eigentlich auch nicht.

Zum Halbfinale sind wir wieder in Düsseldorf und ich mit den Jungs verabredet. Das wissen die zwar noch nicht aber das ist mir jetzt egal. Ich liebe Deine Mutter aber eine Vorrunde reicht. Zum Finale versuchen wir das dann nochmal. Da sind wir nämlich zusammen in Zürich und ich stelle den Fernseher einfach lauter. Dort hast Du nämlich ein eigenes Zimmer und der deutsche Siegesgesang stört Dich dann nicht.

Arcachon – Wo ist das Meer

Wir sind entlang der spanischen Atlantikküste mit imposanten Felslandschaften und einer nicht endenden wollenden Schar an Kinderboutiquen am französischem Bassin d` Arcachon eingetroffen. Dein Kleiderschrank ist mittlerweile größer als meiner und die Anzahl an Kleidchen, Hemdchen und Hütchen nicht mehr zählbar. Praktisch finde ich das man für Damen Deiner Altersgruppe zu jedem Paar Schuhe nicht eine geeignete Handtasche finden muss, da Du freundlicherweise lieber mit rührender Hingabe dieselbige Deiner Mutter ausräumst und schon mal eine unserer Kreditkarten an wildfremde Menschen verschenken möchtest. Da die Tochter Deiner Mutter natürlich nichts ohne Gegenleistung hergibt und Dir bisher noch niemand etwas adäquates angeboten hat dürfen wir bis dato unser Lieblingszahlungsmittel behalten was wiederum den Einkauf der elementaren Baby-Grundausstattungs-Artikeln erheblich vereinfacht und beflügelt. Noch nicht ganz dahinter gekommen bist Du, daß die allermeisten Utensilien in Mamas Handtasche stets die gleichen sind. Das finde ich allerdings auch durchaus schwierig wenn sich das Tragebehältnis fast jeden Tag ändert. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Schuhe-/ Taschenqoutient Deiner Mutter im Verhältnis zur Gesamtreisezeit relativ zivil ausgefallen ist. Das haben wie schon anders erlebt. Also, relativ anders.

In Arcachon gibt es eine Besonderheit. Hier erscheint Ebbe und Flut besonders ausgeprägt. Man hat den Eindruck, das gesamte Bassin läuft leer und legt allerlei Boote und Schiffe auf Sand. Ein ordentlich imposantes Schauspiel das Dich zu faszinieren scheint. Zweimal täglich schaut ein kleines Kind derart irritiert in Richtung Strand das ich mich frage was jetzt wohl in Deinem Kopf abläuft. Wiese, Bäume, Boote: alles gleich nur das Wasser ist auf einmal weg. Und nun?

Das ganze hast Du Dir zwei Tage mit steigend interessierter Miene angeschaut, dann reichte es und der bereits bestens bekannte akustische “Mir-reicht-es”- unmittelbar gefolgt vom “Ich-will-was-haben”-Warnton setzte ein. Es langt also. Dein Gesichtsausdruck sagt: Wir sind am Meer, also will da auch hin. Fertig! Als wir vor ein paar Tagen einmal auf einem Plateau zum Meer ohne Zugang zum salzigen Nass hin übernachtet haben, bemerkte Deine Mutter übrigens das sei ja gar kein richtiges Meer, da könne man ja schließlich nicht hinein, also nütze es auch nichts. Nur gucken ohne anfassen zählt eben nicht. Damit dürfte die familiäre Kurve rund sein.

Du gehst bei Flut ins Bett und erwachst ebenfalls bei steigenden Wasser: alles ist gut – wobei ich nicht sagen kann, daß Du die Zeit dazwischen mit kontinuierlichem Schlaf verbringst. Und noch während des Frühstück erlaubt sich das Meer einfach so die ersten Bötchen aufs natürliche Trockendock zu legen, was Dir nun wiederum überhaupt nicht gefällt. Sobald erkannt, springst Du auf, manövrierst Dich krabbelnd zum Fenster, setzt besagte Warntöne ab und trommelst zur Unterstützung noch gegen sie Scheibe bis ich Dich endlich erhöre.

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Da mir die stoische Gelassenheit Deiner Mutter etwas fehlt, ist das meist kurz nach dem ersten Kaffee und raus geht es mit uns beiden. Wir zappeln gemeinschaftlich dem Meer entgegen oder besser gesagt hinterher. Das Wasser ist hier zwar recht warm, der Wind pfeift einem dafür aber ordentlich und frisch um die Ohren. Meine maritime Begeisterung sinkt in dieser Zeit rapide, aber das macht nix, Deine steigt dafür reziprok dazu. Wenn wir Pech haben und Du das wundersame Meeresversiegen etwas zu spät bemerkst, müssen wir eben etwas weiter wandern. Irgendwann beginnt man allerdings für meinen Geschmack etwas zu tief in Schlick und Matsch zu versinken und mein väterliches Gewissen befielt den geordneten Rückzug. Meine Fürsorge stößt bei Dir allerdings nur auf mäßige Begeisterung und überhaupt kein Verständnis. Ritualisiert verabschieden wir uns vom Meer und stapfen artig protestierend zurück.

Einen solchen Einschnitt in Dein persönliches kleinkindliches Selbstbestimmungsrecht ahndest Du selbstverständlich mit der Einforderung väterlicher Bespaßung nicht unter einer Stunde. Erfreulicherweise entdeckst Du gegenwärtig unsere Frühstücksutensilien als probates Spielzeug wodurch eine weitere Heiterkeit des Tages bereitsteht: Wer am schnellsten ist bekommt das Marmeladenbrötchen, heißt konkret: entweder esse ich das besagte oder Du verteilst den Brotaufstrich hübsch gleichmäßig auf unserer Bettdecke (ja wir frühstücken ernsthaft mit einem Kleinkind gemeinsam im Bett). Man kann eben nicht immer gewinnen.

Wir wollten eigentlich von hier aus in die Bretagne, aber dort soll es die nächste Woche durchgängig regnen. Das nehme ich mal als Zeichen und wir starten gleich in Richtung Süden an den Golfe du Lion. Am Mittelmeer sind die Gezeiten kinderkompatibler und es ist so warm, das wir draußen frühstücken können: das schont die Bettwäsche.

Jetzt schlaf gut kleine Prinzessin, morgen früh gucken wir auf ein Meer das nicht ständig abhaut – Versprochen.

Porto – Stehende Ovationen

Seit einigen Tagen hast Du eine neue Lieblingsposition: Du stehst. Zugegeben etwas wacklig und nicht ohne Dich – allerdings selbständig – irgendwo festzuhalten, aber Du stehst auf Deinen eigenen Beinchen. Und zwar meist nicht irgendwo sondern am Fenster.

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Das ist unsere neue Attraktion. Und zu dieser haben wir gar nichts eigenes dazu getan. Sobald Du morgens das Fenster entdeckst, wird zielstrebig darauf zu gekrabbelt und mittels possierlicher Akrobatik über einen Elternteil hinweg eine aufrechte Position auf ganzen 72 cm Lebensgröße erreicht. Von innen sieht die ganze Szenerie schon herzallerliebst aus – von außen gleicht das ganze aber einem Puppentheater und wird von unserer Umgebung genau so wahrgenommen.

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Man stelle sich das in etwa so vor: In einer absoluten Herrgottsfrühe öffnen Deine Mutter oder ich im Halbschlaf mit lässiger Einarmtechnik das Springrollo am besagten Fenster und die Show beginnt. Sobald Du Dich auf Deiner neuen Lieblingsbühne emporgearbeitet hast beginnst Du freudig mit den Armen zu rudern und in irgendeinem Takt umherzutanzen. Wir nehmen zur Kenntnis: Dem Kind geht es gut und entschlummern mit der Gewissheit, wie schön es doch ist, daß Du Dich selbst beschäftigen kannst, zumindest früh morgens gegen kurz nach sechs. Dummerweise weigert sich Deine innere Uhr die portugiesische Zeitrechnung zu akzeptieren und somit erwachst Du eben eine Stunde vor den elternseits gelernten sieben Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit. Egal, schlafen wird überbewertet.

Ich wollte es zunächst nicht glauben, aber es gibt tatsächlich Menschen welche ernsthaft zu dieser Zeit unterwegs sind. Und zwar nicht auf dem Weg nach Hause sondern von Zuhause was weiß ich wohin. Erblickst Du einen dieser frühmorgendlicher Nachtwanderer beginnst Du ihn anzulächeln und freust Dich derart, daß dich das schon mal aus den nicht vorhandene Latschen hauen kann – sprich Du rücklings auf den Popo plumpst und somit von der Puppentheatermattscheibe verschwindest. Hans-Henrik aus Holland und Eva aus Frankreich sind geschockt und eilen zum Fenster um nachzusehen wo das nette Kind geblieben ist. Höflich wie sie sind geben sie sich noch nicht zu erkennen sondern spähen lediglich lautlos zu uns herein. Das fordert Dich natürlich. Gleich zwei Zuschauer und Du sitzt nur herum. Also alles auf Anfang und das ganze nochmal. Schwung holen, Oberkörper nach vorn bugsiert und mit den kleinen aber tatkräftigen Händen am Fensterrahmen hochgezogen. Die Nachbarn sind zufrieden und spenden beträchtlichen Beifall.

Das kann Deinerseits nicht unbeantwortet bleiben und ein Trommelwirbel gegen die Scheibe beginnt. Draußen ist man verzückt, drinnen voller Freude begriffen. Im zweiten Akt der Aufführung wanderst Du nun den Fensterrahmen entlang was wiederum die Außenstehenden in rasende Verzückung katapultiert und ihresteils zu lärmendem Fensterklopfen animiert.

Wir sind endgültig wach, begrüßen die fidelen Fenstergucker mit knapper Miene und reichen Dir die elterlichen Hände. Doch wozu brauchst Du diese, wenn jenseits der Scheibe rüstige Best Ager in Gestik und Mimik Deiner Alterskategorie derart Konkurrenz machen, daß ich mich nicht direkt entscheiden kann wen ich gleich zu wickeln habe. Holland legt vor, Frankreich zieht nach und belgische Verstärkung an. Mittlerweile trollen sich knapp 200 Jahre europäische Einigung vor unserem Schlafzimmerfenster und können eine persönliche Bekanntname mit Ihrem kleinen Star kaum noch abwarten. Wir lassen uns Zeit, Du sorgst für artgerechte Unterhaltung der infantile Seniorenclique und alle scheinen mit der Situation recht zufrieden.

Aus den unendlichen Weiten der Wagenburgen nähert sich eine einzelne dahin schlurfende Gestalt und würdigt weder Dich noch die Infantilen eines Blickes obwohl – wie ich fest vermute – von Dir höchstpersönlich besonders begrinst. Das ist Dir zuviel am frühen Morgen. Erst schart sich ein Häuflein beigeisterungswilliger Aufrechter vor Dein Fenster und dann spaziert so ein wildfremder Individualist schnurstracks an Dir vorbei. Huldigungslos, keinerlei Notiz nehmend. Jetzt ist es vorbei mit dem fröhlichen Fenstertheater und Du schaust ernsthaft irritiert auf den dahinziehenden Fremdling. Die Infantilen bemerken Deine Irritation und drehen sich zeitgleich zum Individualisten um. Fassungslosigkeit liegt förmlich in der Luft. Sekunden geraten zu gefühlten Stunden. Die Infantilen wenden sich wieder Dir zu aber Du hast Deinen Fensterplatz bereits verlassen um Deinem Stoffesel in einem kurzen Prozeß die grauen Ohren lang zuziehen. Um das Weltbild der reisenden Rentner nicht vollends zum Einsturz zu bringen greife ich beherzt ein und lege Dich samt Esel auf die Schulter und verlasse das kleine Fenstertheater.

Nun hast Du drei Bewunderer ganz für Dich alleine was Dir sichtlich gefällt und dafür sorgt das der Esel seine Ohren behalten darf. Das ist von Vorteil, da ich überlege ihn neben einen Hut auf den Tisch vor das Fenster zu stellen. Er könnte dann ein Schild festhalten: “Vorstellungsbeginn 7 Uhr – Zutritt: 3 Brötchen, 1 Croissant”.

Oder aber ich lasse einfach mal das Rollo unten.

São Martinho – Mütterchen Russland oder die Kunst davon zu kommen

Wir sind wieder nur zu dritt und haben Lissabon verlassen. Das fällt recht schwer, da ich diese Stadt als Lebensmittelpunkt mehr als nur in Erwägung ziehen könnte. Aber dies nur am Rande. Inzwischen hat sich unser Leben on the Road manierlich eingespielt. Du schläfst immer noch nicht jede Nacht alleine in Deinem Bettchen, obwohl wir genau das jeden Abend beabsichtigen, ich Dich fürsorglich in Dein kleines Reisebettchen zu Nachtruhe geleite, aber hin und wieder schlicht und ergreifend einfach einschlafe wenn Du Deine mütterlichen Brustnachtmahle einnimmst zu denen ich Dich dann wieder in unser Bett verfrachte. Da bleibst Du meist auch den Rest der Nacht liegen was wiederum unser Bestreben Dich an Dein eigenes Bett zu gewöhnen ad absurdum führt. Ich halte es jedoch für kleinlich an solchen Stellen auf fest vereinbartes zurückgreifen zu wollen und so sind alle an diesem Projekt beteiligten irgendwie rundum zufrieden. Deine Mutter mäkelt manchmal noch etwas von fehlender Konsequenz aber das dürfte im Reiseverlauf abnehmen. Sie schläft schließlich genauso ein und somit scheitert die nächtliche Kinderverlegung an beiden Elternteilen. Gemeinsames Versagen schweißt zusammen und relativiert das Versäumnis.

Heimlich und von mir gänzlich unbemerkt hat Deine Mutter bereits einen weiteren pädagogischen Schritt für Dich eingeleitet. In ihrer mütterlichen Pflicht Dich auf ein selbständiges Leben nebst eigenem Haushalt vorzubereiten, scheinen ihr diese Tage besonders geeignet um Dir unemanzipierte Haushaltsführung nach persönlicher Interpretation vorzuleben. Ein gewichtiger Augenmerk liegt hier auf Führung. Wer sie kennt weiß um Ihre mannigfaltigen Interessengebiete, organisatorische Perfektion und leidenschaftliche Rechenkunst um die Kosten für dies und das relativieren sowie in dessen Folge in jedes vorhandene Budget integrieren zu können. Ganz gleich um was es sich handelt, sie argumentiert so lange bis jeder Zuhörer bereitwillig – weil überzeugt – einwilligt oder vor fehlenden eigene Argumenten davonläuft. Das aber wiederum nur am Rande.

Zurück zu Haushaltsführung: Man stelle sich vor Du würdest in der Richtung sozialisiert und erzogen haushälterische Dinge selbst erledigen zu wollen und somit später in die Hände eines Ehemannes zu fallen der das auch noch als selbstverständlich und normal voraussetzt, Dir folglich nicht nur permanent den Hof macht sondern erwartet den selbigen gefegt und geputzt vorzufinden. Eine grauenhafte Vorstellung die ich teile. Als verantwortungsvolle Mutter heißt es also frühzeitig gegensteuern.

So ein Campingbus stellt eine Art Mikrokosmos zwischenmenschlicher Interaktion dar. Räumlich überschaubar aber doch mit allem ausgestattet was in einer üblichen Wohnung zu finden ist, nur eben in Miniatur. Es stehen somit überflüssige Dinge wie waschen, spülen und dergleichen an. Als Optimiererin kurzer Laufwege springt Deine Mutter nach Ankunft auf einem neuen Campingplatz in das örtlichen Verwaltungsgebäude, übernimmt unsere Administration – wofür ich Ihr explizit dankbar bin, da ich derlei äußert ungern erledige – und kommt meist mit einem Plan unterm Arm zurück auf dem die notwendigen Versorgungseinrichtungen mit dickem Filzstift umkringelt sind. Somit sind wir alle sofort zu Beginn einer jeden Zwischenstation bestens informiert. Der Anfang ist also gemacht, man weiß wohin, aber noch nicht wer zu gehen hat.

Dieses Informationsblättchen deponiert sie dann zielgruppengerichtet im Küchenbereich wohlwissend das es sich dort eher um mein Refugium handelt. Diese Aufteilung hat sich über Jahre mit Rücksicht auf unsere Ernährungsgewohnheiten bewährt und bedarf keinerlei Verbesserung. Das Abendessen erledige ich für gewöhnlich auf dem Grill womit die Küchenzeile nur als Ablagefläche dient. Hier spielt nun Deine Mutter eine weitere Karte Ihrer Organisationskunst aus. Denn hier findet sich später wie von Geisterhand geschaffen eine hübsche Ansammlung kunstvoll geschichteter Türmchen gebrauchten Geschirrs wieder. Kunstvoll erweitert mit jedem neuen Objekt gleichen Bestimmungsproduktes. Dem babylonischen Turmbau gleich muß Dir das Ganze vorkommen, überragt die Spitze Deine Körpergröße nicht selten um einiges. Du währst allerdings nicht die Tochter Deiner Mutter wenn Dich solche Banalitäten des Alltäglich auch nur ansatzweise interessieren könnten. Da steht eben etwas und gut ist. Erstaunlich da sauberes Geschirr, speziell Teller Deine besondere Aufmerksamkeit erregen. Sobald der Spülturm errichtet ist, verlierst Du aber das Interesse. Ich vermute das Deine Abneigung gegen schmutziges Geschirr eventuell doch genetisch bedingt sein könnte, somit wäre jedweder konträrer Erziehungsversuch in dieser Richtung ohnehin sinnlos und ein zu vernachlässigender. Ob Deine Mutter von meiner Vermutung etwas ahnt weiß ich nicht, der Verdacht aber liegt nahe. Der Turmbau zu Babel endete bekanntlich zwangsweise durch göttliche Hand und auch unserer täglicher Nachbau wird nie vollendet. Hier zwar weniger aus göttlicher Führung sondern aus der weltlichen Notwendigkeit ein Frühstück nicht auf benutzten Tellern bereiten zu können.

Am Morgen stehst natürlich Du im Zentrum mütterlicher Aktivität und somit bleibt für das beschmutzte Bauwerk keine Beachtung übrig. Gegen soviel materne Fürsorglichkeit kommt niemand an und wer ohnehin gerade nichts zu tun der kann ja auch den Abwasch erledigen. Das erscheint selbst mit irgendwie logisch und auf dem Weg dorthin stelle ich geschwind noch eine Maschine Wäsche an. Und Dank Deiner Mutter weiß ich jetzt ohne nachfragen zu müssen wo ich das alles erledigen kann.

Über soviel Teamwork kann man nur begeistert sein. Jetzt entfache ich erstmal den Grill. Das sei Männersache sagt Deine Mutter und damit hat sie nun wirklich Recht. Ich glaube Du bist gefeit davor eine Hausfrau zu werden.

Gott sei Dank – was soll Deine Mutter sonst von Dir denken.

Lissabon – Laufend Besuch

Als Tochter einer Mutter mit Bruder und geschwisterlosem Vater fehlt Dir zwangsläufig eine Tante, also erfinden wir eben eine. Oder besser gesagt die hat sich selbst erfunden: Mimi, eine ehemalige Kellnerinnenkollegin und Freundin Deiner Mutter aus Berliner Studententagen. Mimi kommt Dich regelmäßig besuchen und läßt sich selbstverständlich nicht von diesem Vorhaben abhalten nur weil Deine Eltern meinen derzeit keinen festen Aufenthaltsort angeben zu können. Samstag Abend ist es soweit. Zwei Berliner landen in Lissabon und machen sich auf den Weg zu uns. Wir brechen ebenfalls auf in Richtung Portugal und am Sonntagmorgen trifft man sich.

Es ist keine Zeit zu vertun – ich habe in den vergangenen rund zwei Wochen die wir unterwegs sind fast vergessen, das Städter – und Hauptstädter im Besonderen – überhaupt keine Zeit haben. Begrüßungskuß, Frühstück und ab an den Strand. Na Bravo, kurz nach elf und ich finde mich mit Mimis aktuellen Freund in der ersten Strandbar wieder. Auf die Diskussion über die Biersorte lasse ich mich nicht ein – das lokale kennt der Hauptstädter nicht, also trinken wir Corona. Geht auch, solange man die Limette nicht im Flaschenhals versenkt – finde ich, aber das ist vermutlich meine persönliche Meinung. Zwischenzeitlich hat Dir Deine Mutter längst die neue Sonnenbrille übergestülpt damit Du im Coolnessrennen mit den konkurrierenden Strandkindern die eindeutige Oberhand behältst. Das gelingt Dir mühelos, aber wer hätte das bei einer russischen Mutter nicht erwartet.

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Es ist Zeit laufen zu lernen, dahingehend sind sich alle beteiligten einig. Seit einigen Tagen entdeckst Du, daß man die äußersten Extremitäten am Ende Deiner Beine nicht nur in den Mund stecken kann, sondern so phantastische Dinge wie sich auf sie zu stellen ebenfalls damit erledigen kann. Die Damen sind völlig verzückt und Deine Mutter wird nicht müde Dich an Ärmchen und Schulter stützend durch die Gegend stapfen zu lassen. Das sieht zugegebenermaßen äußerst putzig aus und macht – vor allem – Dir mächtig viel Spaß.

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Unterdessen wird es der Berliner Twengeneration langweilig wir fragen uns was zu tun ist. Der beginnende Strandpromenadenspaziergang endet nach wenigen Minuten. Du gibst uns mit der vertrauten Phonstärke zu verstehen: Bis hierhin und nicht weiter. Wenig zufällig findet sich in Laufweite eine durch Baldachin und Palmwedel sonnengeschützte Strandbar die nach einem Aufenthalt geradezu schreit: wir passen also wunderbar zusammen. Hier gibt es nur lokales Bier was ich gut und die Berliner Fraktion erträglich findet. Oberhalb der Baldachine gibt es eine Sonnenterrasse, die uns beiden konveniert. Der Nachmittag ist gerettet.

Am kommenden Abend erweitern wir unseren munteren Besucherkreis um eine weitere Freundin Deiner Mutter die mittlerweile ebenfalls aus Deutschland mit Mann und Kind an Europas Westspitze eingetroffen ist. Ein neues Experiment beginnt. Aus Mangel an Sitzmöglichkeiten für die vergrößerte Runde verlegen wir das abendliche Grillen auf die Terrasse des gemieteten Bungalow unseres Berliner Ensembles. Das wiederum bedeutet, das Du nun in fremden Betten zu nächtigen hast, zumindest für den ersten Teil der Nacht bevor ich Dich später in Dein eigenes Nachtrefugium umbette. Keine Frage ich bin skeptisch – Deine Mutter nicht. Wen wundert es.

Bevor die erste Flasche Tinto gelehrt scheint, bringt Dich Deine Mutter zu Bett und ich stehe klischeehaft mit den Jungs am Grill. Von nun an sieht man Deine Mutter leider nicht mehr, da Du fremdschlummern offensichtlich weniger unproblematisch siehst als von Deiner Mutter angenommen. Nach knapp einer Stunde fragen Ihre Freundinnen bei mir nach ob sie möglicherweise nebst Dir eingeschlafen sein könnte. Das verneine ich natürlich aber die Damenriege läßt nicht locker so daß ich mich genötigt sehe im Schlafzimmer nachzusehen. Wen wundert es: Ein vertrautes Bild: Deine Mutter wandelt durch das mehr als übersichtliche Zimmer gekonnt um ein viel zu großes Bett herum, während Du wenige Anzeichen zum Beginn der kindlichen Schlafphase aussendest. Mit einer ausladenden Handbewegung werde ich heraus kompromittiert. “Nein, beide wach” vermelde ich und entferne mich wieder Richtung Terrasse. Es dauert noch einige Zeit bis Du dich doch schlussendlich zur Nachtruhe entschließen kannst und somit Deine Mutter zu uns entlassen wird.

Pflichtbewusst befrage ich Deine Mutter nach Wünschen bezüglich für sie zu grillender Objekte und entfache erneut das Feuer. Unterdessen trägt die sechsjährige Mia, Tochter der zuletzt angereisten mütterlichen Freundin, unsere Gaslaterne auf der Suche nach Irgendetwas munter durch die Gegend. Viki, ihrer Mutter fragt mich nach eventuellen Risiken die ich eloquent mit dem Hinweis auf das Schutzglas abweise. Damit geht die Suche weiter. Nachdem Glut und Grill bereit sind, vermeldest Du Deinen ausdrücklichen Willen nicht auch nur eine weitere Minute hier nächtigen zu wollen und Deine Mutter beordert den strategischen Rückzug.

Auf diesem sind das Lampenschutzglas und ich aneinander geraten und ich verleugne hiermit ein für alle mal dessen Schutzwirkung. Die Frage warum das wohl so ist habe ich mir dann die kommenden zwei Stunden auch nicht beantwortet, die ich ich Dich auf meiner Schulter durch die Nacht getragen habe. Währenddessen schläft Deine Mutter bereits tief und fest.

Eigentlich ungerecht: Sie war doch fast den ganzen Abend mit Dir in Mimis Schlafzimmer und ich mußte die ganze Zeit am Grill stehen.