Dein 15. Lebensmonat kennzeichnet sich vor allem dadurch, daß Du – aber vor allem Deine Mutter und ich – langsam aber sicher in einer gewissen Normalität unseres Familienbetriebes ankommen müssen – was wiederum konkret bedeutet uns beide zu trennen. Eine grauenvolle Vorstellung, nehme ich doch das Attribut perfekter Verdrängung unaufhaltsamer Tatsachen für mich allgemeingültig in Anspruch. Deine Mutter – wohlwissend um diesen Umstand – hat also Deine Kindergarteneinführungsrunde in genügendem Abstand vor ihren finalen beruflichen Vollzeitwiedereinstieg gesetzt.
So eine Kleine-Menschen-lernen-etwas-neues Einführung findet unter bedenklicher Missachtung der UN-Menschenrechtscharta statt. Jedem Gefangenen (nach UN-Auslegung) steht das Recht auf Aufklärung seiner Situation, einer Interessenvertretung seiner Person und die Garantie der Ausübung seiner persönlichen, ethnischen und religiösen Grundfreiheit zu. Und das bekanntlich 1948 zuletzt international festgeschrieben. Im Kindergarten gibt es nichts von alledem. Das kann ich belegen, denn ich muss Dich petitions- und beistandslos diesem Sammelsurium an Willkür übereignen und dies auch noch mit Wissen und vollständigem Einverständnis Deiner Mutter.
An einem für Dich nicht vorherzusehenden Tag – selbst Delinquenten übelster Hinterhältigkeit erfahren vorab was ihnen blüht – verfrachtet Dich Deine Mutter ohne viel Federlesens in ihr Auto und fährt mit Dir gen Kindergarten. Irgendein Ratgeber verbietet eine elterlich-duale Kindergarteneingewöhnung und ich bleibe zu Hause. Wahre Helden leiden eben leise.
Dort angekommen erwartet Dich Deine neue Großraumbespaßung mit zu weiten Teilen hier weit länger ihrem Schicksal übereigneter Kleinmenschen ganz ohne jedwede Vorwarnung. Nun erfolgt ein perfide Schritt von Vortäuschung falscher Tatsachen. Deine Mutter mischt sich und Dich unauffällig unter die muntere Kinderschar um im passenden Moment mit einem kurzen, knappen “Paka” aus dem Raum zu verschwinden. Verabschiedungen haben sich bei uns mittlerweile auf russisch eingebürgert, da es zu allerliebst klingt, wenn Du statt “Paka” (also “Tschüss” auf russisch) “Kaka” unter Zuhilfenahme winkender Hände von Dir gibst, da Du Dich beharrlich weigerst das “K” mit einem “P” zu tauschen. Den irritierten Blick Deiner Umwelt in diesen Situationen kann man sich lebhaft vorstellen. Aber zurück zum Kindergarten: da stehst Du also nun vor einer Heerschar bereits zum Kollektiv verbrüderter kleiner Menschen die Dich altersmäßig nicht selten um mehr als das dreifache überragen und wirst von Anna und Barbara, den beiden Oberkommandierenden des Pionierbataillons vorgestellt. Das ist die Sarah Sophie, die gehöht jetzt zu uns. Lebenslänglich Verurteilte können Rechtsmittel einlegen, Du nicht. Basta. Eltern können grausam sein. Deinen Unmut über diese neue Lebenssituation bekundest Du sogleich mit einer verbalen Protestnote und forderst Dein kleinkindliches Recht auf Individualbetreuung ein. Und tatsächlich hier ist nicht alles grausam. Flugs sitzt Du auf dem Arm einer der beteiligten Gruppenvorsteherinnen und wirst – wie ich vermute – über die zukünftigen Einschränkungen Deiner grundrechtsmäßig garantierten Freiheiten instruiert. Aber wie gesagt, das kann ich natürlich nur mutmaßen.
Die Instruktionen scheinen Wirkung zu zeigen, denn nach einigen Minuten beruhigst Du dich scheinbar und ergibst Dich Deinem Schicksal. Unter Folter gesteht man ja alles irgendwann. Der Spuk ist nach einer gefühlten Ewigkeit vorbei und Deine Mutter erscheint wie aus heiterem Himmel als Retterin der Entrechteten und nimmt Dich wieder zu sich, spielt noch etwas mit Dir und den anderen Schicksalsergebenen um Euch dann wieder nach Hause zu chauffieren.
Von nun an wiederholt sich dieser Eingriff in Dein Selbstbestimmungsrecht und die kleinkindliche Reservatsüberführung mit bedenklicher tägliche Regelmäßigkeit. Deine Aufenthalte im Club der Entrechteten werden kontinuierlich länger, selbstverständlich bei gleichzeitiger Abnahme derselben Deiner Mutter, bis Du schließlich dort angekommen bist, wo wir Dich die nächsten Jahre angedacht haben:
Jeden Vormittag von halb neun bis zwölf unter ähnlich temporär Elternbefreiten.
Ganz im geheimen – aber wirklich nur wenn gar niemand zuhört konnte ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, daß Dir das alles auch noch scheinbar Spaß bereitet. Dein Vater jedenfalls leidet jeden Morgen wenn Du von dannen ziehst. Aber das tut er selbstredend heldenhaft leise. Davon steht dann aber nix bei den Vereinten Nationen. Möglicherweise ist das aber auch gut so. Wehr Dich Prinzessin, wenn Dir was nicht paßt. Das sagt zwar nicht die UNO, aber dafür ich.





