Der 16. Monat – Teddys bekommen ein Zuhause

Regen und graue Wetterlagen kommen in unseren Breitengraden ja durchaus das ein oder andere Mal vor, Monat Nummer 16 Deines Lebens glänzt aber derart mit beidem, daß die Freizeitmöglichkeiten arg eingegrenzt werden. Genau genommen verbringen wir diesen Monat gefühlt vollständig zu Hause, was Deine Mutter und mich in zwei Dingen verwundert: erstens wir können genau das und zweitens verfallen wir doch nicht direkt in tiefe Depression wenn wir nicht umher vagabundieren.

Wir kommen dann aber auf so seltsame Ideen wie etwa festzustellen, daß Dein Kinderzimmer nicht wie ein solches aussieht, Deine Spielsachen alle im Wohnzimmer gelagert werden und in Deinem Zimmer eigentlich nur Dein Bett steht. Deine Mutter beschließt die sofortige und unumkehrbare Änderung dieses, ab sofort unerträglichen Zustandes. Der war mir wiederum zwar bis dato als solcher noch nicht ersichtlich aber an irgendeinem Samstag besteht akuter Handlungsbedarf. “Das Kind kann ja gar nicht in seinem Zimmer spielen.” war – glaube ich – der Schlüsselsatz und ab dann setzt ein gewisser Automatismus ein. Das Ergebnis dieses zielgerichteten elterlichen Aktionismus ist ein Spielteppich mit Emma dem Zebra, Bruno dem Bär, einer Truhe mit irgendeinem anderem Zebra und zwei Regale Deiner Reichweitenhöhe im Giraffendekor um die versammelte Plüschtierelite Deines jungen Lebens stilecht aufzubahren. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich überhaupt nicht wie Teddy und Co bisher den Weg zu Dir gefunden haben. Spekulativ ist es zu vermuten, daß Dein bisher mäßiges Interesse an ihnen damit einhergeht. Aber egal, jetzt weiß jeder wo er hingehört.

Deine Mutter ist in Ihrer Begeisterung für die Erschaffung Deiner neuen Kinderwelt nicht zu bremsen und verkündet frohlockend wie hübsch es doch wäre wenn in Dein neues Zimmer auch mal Besuch kommen würde. Passend erscheinen also Martina und Christian nebst Tochter Helene wenige Tage später zum Essen. Helene ist nur einige Tage älter als Du und somit grundkompatibel für ein solches Unterfangen.

Unmittelbar nach der Vorspeise beginnst Du mit Deiner neuen Freundin allmählich Deine Spielsachen und Kuscheltiere ins Wohnzimmer zu verfrachten um sie dann – wie üblich – über den Boden auszubreiten. Das ist eigentlich nichts Neues, das war schon immer so, seit Du irgendetwas selbst tragen kannst. Man will ja schließlich zeigen was man hat und kann.

Etwa in Höhe des Hauptgangs vernehmen wir sonderbare Geräusche aus Richtung Kinderzimmer, die uns wie das Verrücken von Möbeln vorkommen. Noch während sich zwei Elternpaare verwundert anblicken, schiebst Du unter tatkräftiger Hilfe Dein gesamtes bewegliches Interior aus Kinder- ins Wohnzimmer und beginnst augenblicklich damit es dort von seinen letzten Intarsien zu befreien. Ich bin verzückt und verweise auf die Richtigkeit das Kinderzimmer endlich mobiliar gestaltet zu haben. Zu guter Letzt fliegt der vollständige Inhalt der großen Schubfächer mit den Bodenrollen durch die Gegend und zwei glückliche Kleinkinder werden in eben diesen Schubladen sitzend durch das Zimmer geschoben.

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Und weil ja nun wieder Platz im Kinderzimmer ist lassen sich die Indoorausflugsfahrten auch dorthin ausdehnen. Somit sieht vor dem Dessert alles wieder aus wie immer. Freiflächen für den aufrechten erwachsenen Gang sind spärlich gesät und wenn man sich doch seine Weg geebnet hat steht man vor einem Panorama freiflächiger Kinderzimmerromantik gemäß des Mottos “Ordnung durch Leere”.

Einen Vorteil hat das ganze aber schon: Ich räume jetzt jeden Abend nicht mehr ein Zimmer auf, sonder trage Deine Sachen durch unsere Wohnung um sie dann in Deinem Zimmer wieder aufzustapeln.

Schon schön was uns an Regentage so einfällt. Nächsten Monat fahren wir wieder weg – das garantiere ich! Meinetwegen auch bei schlechtem Wetter.

Der 15. Monat – Kindergarten vs. UN

Dein 15. Lebensmonat kennzeichnet sich vor allem dadurch, daß Du – aber vor allem Deine Mutter und ich – langsam aber sicher in einer gewissen Normalität unseres Familienbetriebes ankommen müssen – was wiederum konkret bedeutet uns beide zu trennen. Eine grauenvolle Vorstellung, nehme ich doch das Attribut perfekter Verdrängung unaufhaltsamer Tatsachen für mich allgemeingültig in Anspruch. Deine Mutter – wohlwissend um diesen Umstand – hat also Deine Kindergarteneinführungsrunde in genügendem Abstand vor ihren finalen beruflichen Vollzeitwiedereinstieg gesetzt.

So eine Kleine-Menschen-lernen-etwas-neues Einführung findet unter bedenklicher Missachtung der UN-Menschenrechtscharta statt. Jedem Gefangenen (nach UN-Auslegung) steht das Recht auf Aufklärung seiner Situation, einer Interessenvertretung seiner Person und die Garantie der Ausübung seiner persönlichen, ethnischen und religiösen Grundfreiheit zu. Und das bekanntlich 1948 zuletzt international festgeschrieben. Im Kindergarten gibt es nichts von alledem. Das kann ich belegen, denn ich muss Dich petitions- und beistandslos diesem Sammelsurium an Willkür übereignen und dies auch noch mit Wissen und vollständigem Einverständnis Deiner Mutter.

An einem für Dich nicht vorherzusehenden Tag – selbst Delinquenten übelster Hinterhältigkeit erfahren vorab was ihnen blüht – verfrachtet Dich Deine Mutter ohne viel Federlesens in ihr Auto und fährt mit Dir gen Kindergarten. Irgendein Ratgeber verbietet eine elterlich-duale Kindergarteneingewöhnung und ich bleibe zu Hause. Wahre Helden leiden eben leise.

Dort angekommen erwartet Dich Deine neue Großraumbespaßung mit zu weiten Teilen hier weit länger ihrem Schicksal übereigneter Kleinmenschen ganz ohne jedwede Vorwarnung. Nun erfolgt ein perfide Schritt von Vortäuschung falscher Tatsachen. Deine Mutter mischt sich und Dich unauffällig unter die muntere Kinderschar um im passenden Moment mit einem kurzen, knappen “Paka” aus dem Raum zu verschwinden. Verabschiedungen haben sich bei uns mittlerweile auf russisch eingebürgert, da es zu allerliebst klingt, wenn Du statt “Paka” (also “Tschüss” auf russisch) “Kaka” unter Zuhilfenahme winkender Hände von Dir gibst, da Du Dich beharrlich weigerst das “K” mit einem “P” zu tauschen. Den irritierten Blick Deiner Umwelt in diesen Situationen kann man sich lebhaft vorstellen. Aber zurück zum Kindergarten: da stehst Du also nun vor einer Heerschar bereits zum Kollektiv verbrüderter kleiner Menschen die Dich altersmäßig nicht selten um mehr als das dreifache überragen und wirst von Anna und Barbara, den beiden Oberkommandierenden des Pionierbataillons vorgestellt. Das ist die Sarah Sophie, die gehöht jetzt zu uns. Lebenslänglich Verurteilte können Rechtsmittel einlegen, Du nicht. Basta. Eltern können grausam sein. Deinen Unmut über diese neue Lebenssituation bekundest Du sogleich mit einer verbalen Protestnote und forderst Dein kleinkindliches Recht auf Individualbetreuung ein. Und tatsächlich hier ist nicht alles grausam. Flugs sitzt Du auf dem Arm einer der beteiligten Gruppenvorsteherinnen und wirst – wie ich vermute – über die zukünftigen Einschränkungen Deiner grundrechtsmäßig garantierten Freiheiten instruiert. Aber wie gesagt, das kann ich natürlich nur mutmaßen.

Die Instruktionen scheinen Wirkung zu zeigen, denn nach einigen Minuten beruhigst Du dich scheinbar und ergibst Dich Deinem Schicksal. Unter Folter gesteht man ja alles irgendwann. Der Spuk ist nach einer gefühlten Ewigkeit vorbei und Deine Mutter erscheint wie aus heiterem Himmel als Retterin der Entrechteten und nimmt Dich wieder zu sich, spielt noch etwas mit Dir und den anderen Schicksalsergebenen um Euch dann wieder nach Hause zu chauffieren.

Von nun an wiederholt sich dieser Eingriff in Dein Selbstbestimmungsrecht und die kleinkindliche Reservatsüberführung mit bedenklicher tägliche Regelmäßigkeit. Deine Aufenthalte im Club der Entrechteten werden kontinuierlich länger, selbstverständlich bei gleichzeitiger Abnahme derselben Deiner Mutter, bis Du schließlich dort angekommen bist, wo wir Dich die nächsten Jahre angedacht haben:

Jeden Vormittag von halb neun bis zwölf unter ähnlich temporär Elternbefreiten.

Ganz im geheimen – aber wirklich nur wenn gar niemand zuhört konnte ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, daß Dir das alles auch noch scheinbar Spaß bereitet. Dein Vater jedenfalls leidet jeden Morgen wenn Du von dannen ziehst. Aber das tut er selbstredend heldenhaft leise. Davon steht dann aber nix bei den Vereinten Nationen. Möglicherweise ist das aber auch gut so. Wehr Dich Prinzessin, wenn Dir was nicht paßt. Das sagt zwar nicht die UNO, aber dafür ich.

Gagra – Ein Tag am Meer

Wir bewohnen das kleine Gartenhaus unserer Gastgeber die Dich sofort in Ihr Herz geschlossen haben und zwar alle über alle drei Generationen hinweg. Zum Strand sind es nur etwa zehn Minuten und somit steht einem Tag am Meer nichts im Wege. Ich gebe zu die Infrastruktur der zweitgrößten Stadt Abchasiens könnte geringfügig verbessert werden aber mit etwas sportlichem Willen und den richtigen Rädern an Deinem Kinderwagen kommt der auch überall hin.

Eine Bahnlinie inklusive Wall ist zu überwinden und die sicherlich tüchtige Gemeindeverwaltung hat gewiss einfach nur vergessen ein paar Hinweisschilder aufzustellen. Auf einem Gerölltrampelpfad umkurven wir ein paar seeähnliche Pfützen denn unpraktischerweise hat es die ersten zwei Tage unser Ankunft nahezu ununterbrochen geregnet. Dann aber sind wir am Strand angekommen und Du schaust auch nur ein ganz klein wenig irritiert, denn Meer mit Horizont kennst Du – davor hat aber gefälligst Sand in rauen Mengen vorzuherrschen. Das ist hier leider nicht der Fall und so finden wir uns schließlich am Kieselstrand von Gagra wieder. Babuschkas schleppen dicke Tüten mit allerlei selbst gebackenem umher und das Bier von der Bretterbude ist eiskalt. Kurzgesagt unsere Familie fühlt sich wohl.

An einem ordentlichen Strand im postsowjetischen Raum dürfen natürlich Maiskolben nicht fehlen und die stellen Deine neuste Herausforderung dar. Deine Mutter hat sich erlaubt eine solchen ganz für sich alleine zu kaufen und muß mit dem augenblicklichem kleinkindlichen Protest Deinerseits leben. Mütterlich vorsorglich klaubt sie Dir einzelne Maiskörner heraus und findet reißenden Absatz. Auf Dein Selbstverwirklichungsrecht pochend machst Du uns allerdings unmissverständlich klar einen eigenen Maiskolben haben zu wollen um einen weiteren Schritt in Autarkie von der elterlichen Nahrungsvorsortierung zu erlangen. Zu meiner Überraschung verlierst Du an dem nicht nach wenigen Minuten das Interesse (ich habe wahrscheinlich bereits erwähnt, daß Du in Geduldsdingen wahrhaftig die Tochter Deiner Mutter bist), sondern knabberst ihn hingebungsvoll und mit gründlicher Leidenschaft ab. Wir sind dermaßen begeistert, daß wir gar nicht bemerken wie einige Strandbesucher vor Dir stehen geblieben sind um dem Schauspiel beizuwohnen. Das wiederum gefällt Dir und das mittlerweile bekannte Schauspiel vom kleinen Kind und staunenden Passanten nimmt seinen Lauf. Aber ein zu putziges Bild gibt die Szene wirklich ab.

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Und mir gefallen die mächtig anerkennende Gesten unserer Umwelt zu meiner Tochter. Man glaubt es nicht aber es dauert nicht allzu lange bis jemand mit einer Flasche Vodka auftaucht um mit mir auf meine außergewöhnliche Tochter anzustoßen. Es ist zwar erst früher Mittag aber es wäre unhöflich den Mann zurückzuweisen. Also trinken wir auf Dich, Deine Mutter und seine Frau, Völkerfreundschaften und die Tatsache uns getroffen zu haben. Das ist nun wirklich praktisch, denn Sergej ist unter anderem Taxifahrer und wir brauchen ohnehin jemanden der uns morgen durch die Schlucht zum Ritsasee fährt. Und wer so tapfer trinken kann scheint mir bestens geeignet für den Job. Wir verabreden uns für den morgigen Tag neun Uhr.

Unser Gastgeber ist Jäger und der dazugehörige Hund namens Bona Dein neuer Freund obwohl er Dich in Größe etwas überragt. Da Du Dich weigerst ohne Bona das Haus zu verlassen haben wir uns entschlossen ihn hierhin mit zum Strand zu nehmen was ich anfänglich für völligen Unfug gehalten habe, nun aber recht passend finde, da er praktischerweise wasserscheu ist und als Wachhund nicht von unseren Sachen weicht während wir mit Dir im Meer sind. Zu Vodka gehört schließlich Wasser – ob nun von außen oder innen. Denn ganz nebenbei hast Du heute Deine letzte Angst vor Wellen abgelegt und bist nur schwer davon zu überzeugen das Meer wieder zu verlassen. Da das ganze fast Badewannentemperatur hat ist Deine neue Freizeitbeschäftigung auch ausgiebig zu genießen.

Und übrigens, die zweite Schaschlikbude vom Strand aus ist die beste. Das haben Sergej und ich genauestens überprüft. Wirklich schön so ein Tag am Meer.


Sarah Sophie 2012 – Part 3/6 – September 2012 – Kaukasus

Etschmiadsin & Gagra – würdevolle Schritte und ein Land, das es nicht gibt

Deine Mutter und ich warten nun schon seit Wochen, daß Du Deine ersten eigene Schritte ganz alleine erledigst, aber damit möchtest Du Dir Zeit lassen. Zumindest scheinst Du Dir einen würdevollen Ort aussuchen zu wollen. Und siehe da er scheint gefunden: die Kathedrale von Etschmiadsin; so ziemlich das Heiligste was die Armenische Kirche zu bieten hat.

Während Dein Vater tugendhaft und mit ordentlichem Vorpalaver unseres armenischen Organisationsmultis Sargis die Lanze photographieren darf, die – sagen wir mal vorsichtig der Legende nach – Jesus von Nazareth auf dem Berg Golgatha zur absoluten römischen Todesgewissheit in den Leib gerammt worden sein soll, gehst Du seelenruhig am langen Arm des hiesigen Episkopaten durch besagte Kathedrale spazieren. Deine Mutter meint später, er hätte Dich zwar eigentlich nicht genug bestaunt und gewürdigt, läßt aber meinen Einwand zu, das eben dies sicherlich mit Amt und Würde unvereinbar sei. Jedenfalls magst Du irgendwann nicht mehr vom Arm des schwarz gekleideten herumgeführt werden und beschließt von jetzt auf gleich die stützende Hand zu verlassen und stolperst wohl ordentlich wacklig aber selbstbestimmt und fremdhilfelos durch das Gotteshaus. Das verzückte Gesicht Deiner Mutter hätte ich zu gerne gesehen und zwar zeitgleich mit eben diesen Deiner ersten Schritte. Beides passiert aber leider ohne mich, da – wie bereits erwähnt – ein hochheiliges Geschmeide meine Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Absolut unpassend wie ich finde, aber nicht zu ändern. Unnötig zu erwähnen, das die mannigfaltigen Wiederholungsversuche dieses Elternglücksehligkeitsprozedere mit dem üblichen “Kind plumpst auf Popo” enden und somit lediglich ein paar zufällige Kirchgänger Zeugnis darüber ablegen können das Du den aufrechten Gang geübt hast. In den nächsten Tagen passiert rein gar nichts in dieser Hinsicht und Du nimmst Dir fast eine Woche Zeit um einen zweiten Anlauf im Geradeauslauf zu unternehmen. Und hier suchst Du Dir einen ähnlich passenden Ort aus:

Ein Land das es eigentlich gar nicht gibt – oder korrekt gesagt den Bahnhof von Gagra, einem ehemaligen Seebad aus Zarenzeiten, das allerdings nebst seinem Bahnhof ordentlich in die Jahre gekommen ist. Dieses Land, das es eigentlich nicht gibt ziert sich mit dem hübschen Namen Abchasien und liegt an der nordwestlichen Grenze von Georgien und Russland. Die kaukasischen Kleinkriege in einem Satz zu erklären ist Unsinn an sich und damit an dieser Stelle zu vernachlässigen. Nur soviel: das völkerrechtlich überschaubare Volk der Abchasen mochte sich in den 90er Jahren endgültig für unabhängig erklären, was wiederum der georgischen Zentralregierung, zu dessen Staatsgebiet sie bis dato gehörten, aufs äußerste missfiel und es somit – wie leider oft im Kaukasus – zu einem Krieg kam. Das vorzeitige Ende dieser Selbstbestimmung ist ein ausgerufener Staat den fast kein Land der Erde anerkennt, und somit faktisch nicht existiert. Dieser nicht existierende Staat hat Dir ein Visum ausgestellt und wir sind seit knapp einer Woche hier. Und das ist spannend an sich.

Möchte man Abchasien besuchen, wählt man von Mitteleuropa kommend wohl meist das Flugzeug und da fängt das Problem bereits an: Es gibt derzeit keine internationalen Flughafen im Land und so fliegen wir eben vom armenischen Yerevan nach Sotchi an die russische Schwarzmeerküste und haben uns von dort ein Auto nebst Fahrer in Richtung abchasische Grenze organisiert die nur etwa 40 km entfernt liegt. Von dort müssen wir dann noch etwa 30 km weiter immer am Meer entlang bis nach Gagra. Soweit so gut. Da selbst der größte Wolga einen zu kleinen Kofferraum für unser Bagageaufkommen hat, steht ein Minivan nebst wortkargem Fahrer bereit um unsere kleine Familie weiter zu befördern. Der Arbeitgeber des sprachverhinderten Chauffeur gelobt mehrfach, wir könnten die Grenze einfach durchfahren und müssten nicht mit dem Gepäck und Dir auf dem Arm an irgendwelchen Schalterhäuschen vorstellig werden. Selbstverständlich eine glatte Lüge und so tragen wir Dich und unser ganzes Geraffel irgendwann gegen Mitternacht durch eine Grenzstation die Ihren Namen wirklich verdient. Reisende im postsowjetischen Raum wissen wovon ich spreche.

Nachdem alles zigmal durchleuchtet, begutachtet und beäugt wurde wirst Du pünktlich bei Ankunft an der wichtigsten Stelle wach: Dem Mann mit großer Mütze und dem Stempel aller Stempel. Der russische Pass Deiner Mutter ist schnell abgearbeitet, an Deinem Kinderreisepass gibt es offenkundig auch nichts zu mäkeln, dann aber komme ich ins Spiel. Ich gebe zu mein Pass sieht gepflegt benutzt aus und wartet zu allem Überfluss neben allerlei Visa und Stempel der vergangenen Jahre, mit ebensolchen der Republik Nagorny-Karabach auf. Auch ein Land, was es nicht gibt. Derer gibt es im Kaukasus die ein oder anderen und das irritiert dem Stempelmann gehörig. Der herbeigerufene Kollege weiß auch keinen Rat und gibt die Frage an Deine Mutter zurück. Die erklärt völlig solvent mit Hinweis auf die armenisch-aserbaidschanische Historie der letzten zwanzig Jahre die Notwendigkeit dieses Visums und legt ohne Luft zu holen unmittelbar das schlagende Argument nach, daß wir schließlich bereits schon einmal nach Ausstellung dieses Visa nach Russland eingereist seien und hier überhaupt kein Problem vorliegen könne. Die Offiziellen hinter der Glasscheibe sind sichtlich überfordert, was wiederum Deiner Mutter gefällt und Sie zu Hochform auflaufen läßt. Es sei schon ganz schön eng hier und das Kind werde langsam unruhig. Das nun unruhig zu werdende Kind hat bis dato interessiert zuschauend adrett auf dem mütterlichen Arm verbracht. Dies nur als Randnotiz.

Du wirst augenblicklich auf den Schalter gestellt, was Dich selbstverständlich animiert den selbigen als eine Art Tanzfläche unter den schützend-stützenden Armen Deiner Mutter zu verstehen. Was für ein hübsches Kind, wie munter und aufgeweckt entgegen die früheren Herrscher über den Schalterbereich. Um die bemängelte Enge aufzulockern werde ich befugt den Grenzkasten zu verlassen und schon mal das Gepäck ins Auto zu laden.

Nachdem wir alle wieder im Auto sitzen gibt Deine Mutter den Rat des bemühten Beamten an mich weiter: Ich solle mir doch besser einen neuen Pass besorgen, mit den ganzen Visa könnte es ja durchaus Probleme geben. Woher der Mann das nun wieder weiß ist mir allerdings schier ein Rätsel.

Willkommen in Abchasien.

Yerevan – Kaukasische Kinderküche

In den vergangenen Monaten war es immer mal wieder ein mittleres Drama Dich zu Tisch zu bitten. Zeitweise magst Du nur unter Zuhilfenahme allerlei Tricks Deine diversen Breikreationen zu Dir zu nehmen. Die letzte Finte dieser Art sind handelsübliche Salzstangen, die Du mit Freude Zentimeter für Zentimeter hingebungsvoll in Dich hinein futterst und Dich in den sich dadurch ergebenden kleinen Pausen (zwischen zwei dieser Laugengebäcke) vermehrt durchaus in Stimmung wähnst Deine eigentlichen Mahlzeiten vom fütternden Löffel aufzunehmen. Die daraus wiederum resultierenden Geschmacksmanigfalltigkeiten scheinen Dich in kleinster Weise zu irritieren und so gibt es Obst, Milchbrei oder auch Gekochtes mit Salzstangen. Alles egal, solange Salzstangen dabei sind ist alles gut.

Irgendwo steht geschrieben – sagt jedenfalls Deine Mutter, und ich glaube ihr natürlich – das Kinder ab einem Alter von etwa einem Jahr prinzipiell alles essen dürfen was ihnen schmeckt, vorausgesetzt es ist nicht zu stark gewürzt, bzw. besticht nicht durch zuviel Zucker. Und das nimmst Du hier wahrhaft wörtlich. Zaghaft angefangen hat alles mit Gurken und Tomaten die Du etwa zur Hälfte auf Deine Kleidchen und Hemdchen verteilst, aber eben auch die andere Hälfte vollständig aufisst. Das finde ich durchaus normal. Direkt gefolgt von Chatschapuri, einer eigentlich georgischen Spezialität, die jedoch zu allen Tages- und Nachtzeiten in der kleinen Bäckerei im Hinterhof unseres armenischen Wohnhauses verkauft wird. Dieser mit Käse gebackene Hefeteig erfreut sich bei Deiner Mutter ebenfalls großer Beliebtheit und so werden wir regelmäßig am Verkaufsfenster besagter Bäckerei vorstellig. Die dort backenden und verkaufenden Damen sind derart von dem kleinen Kind mit dem großem Appetit hingerissen, daß wir ständig etwas geschenkt bekommen, was wiederum mein Gewicht nicht eben verkleinert. Aber Dir geht es gut dabei.

Haben wir dann Haus und Hof verlassen sitzt Du fröhlich futternd in Deinem Kinderwagen und läßt Dich durch die Stadt kutschieren. Alternativ nimmst Du auch kommentarlos im Autokindersitz Platz und akzeptierst murrenlos die Fahrkünste hiesiger Taxifahrer.

Gegen frühen Mittag steht dann Selbstgekochtes für Dich auf dem Speiseplan und auch hier scheint Dein Appetit durch den georgischen Imbiss nicht geschmälert zu sein. Die Salzstangen kommen nur noch vermindert zum Einsatz. Nach Deinem Mittagsschlaf verspüren Deine Mutter und ich meist auch etwas Appetit und wir steuern für gewöhnlich eines der zahlreichen rustikalen Restaurants an, die sich alle – Kraft autoritärerer väterlicher Willkür – in einem Punkt zwingend ähneln: Sie verfügen über einen Grill. Oder vereinfacht ausgedrückt es gibt Schaschlik in jedweder Form. Die, wie ich finde, größte Errungenschaft im postsowjetischen Raum. Schaschlik ist hier so eine Art Glaubensfrage und jeder kennt unzählige Rezepte von den aber immer nur genau eins das wirklich wahre ist.

Siehst Du den typischen Teller mit Fleisch und frischen Kräutern eingewickelt in Lawasch, einem dünnen Fladenbrot, ist die Freude groß. Ich überprüfe den Schärfegehalt, reguliere ihn gegebenenfalls und schon hältst Du ein Stück in Händen. Und wer jetzt glaubt die Freude ist von kurzer Dauer, der irrt gewaltig. Nicht übermäßig schnell – sechs kleine Zähnchen brauchen eben etwas länger – aber meist nahezu vollständig mummelst Du das kaukasische Grillgut auf. Daß das ein oder andere kleine Teilstück auch überall anders landen kann möchte ich hier nicht weiter breittreten.

Von nun an soll es niemanden mehr weiter verwundern, daß Du auch anderen hiesigen Lokalköstlichkeiten wenig abgeneigt bist. Herausragend hierbei ist im besonderen Sudschuk, eine stark gewürzte Rindfleischwurst die ich nun wahrlich nicht als kinderkompatibel angesehen habe. Da Deine Wesenszüge in Hinblick auf das Prinzip wenn Du etwas unbedingt haben möchtest, denen Deiner Mutter gleichen und somit eher das bekannte Kamel durch das ebenfalls bestens bekannte Nadelöhr geht, als Du Deinen Wunsch zurücksteckst, habe ich Dir irgendwann ein Stück zum probieren gegeben – fest in dem Glauben verankert, dasselbige gleich im hohen Bogen gen Tapete fliegen zu sehen. Aber nichts da Du knabberst genüsslich und ohne Anzeichen irgendeiner Reue am extravaganten Wurstprodukt.

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Ich stelle also fest: Ausflüge in den “wilden” Osten bekommen Deiner Appetitvielfalt in herausragender Art und Weise. Und übrigens mit Deinen Salzstangen fütterst Du neuerdings lieber mich mit bewundernswerter Hingabe. Das erscheint selbst mir völlig logisch, denn zuviel Beilagen schmälern sonst womöglich noch die Lust auf all die feinen Hauptgerichte.

Guten Appetit, Prinzessin.


Sarah Sophie 2012 – Part 4/6 – September 2012 – Kaukasus

Ukhtasar – Petroglyphen-Panorama

Von Yerevan geht es rund 250 km nach Südosten in Richtung der Grenze zum Iran. Der Straßenzustand ist bestens und unser Auto – ein schwarzer Mercedes 124 der frühen 90er Jahre – bewältigt die Strecke in gut drei Stunden. Du läßt Dich mit der scheinbar schier unerschöpflichen Riege an Beschäftigungstricks Deiner Mutter bespaßen bevor Du nach der Hälfte der Strecke entschlummerst und pünktlich kurz vor Ankunft in Sisian wieder erwachst. Das paßt perfekt, denn nun magst Du auch nicht mehr in Deinem Kindersitz verweilen.

In Sisian müssen wir das Auto wechseln denn von nun an gibt es keine Straßen mehr und es bedarf eines geländegängigen Vehikels. Das finden wir in Form eines UAZ (Uljanowski Awtomobilny Sawod) der russischen Variante eines Ur-Jeep, gebaut irgendwo im Ural.

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Sein Baujahr liegt noch weit in sowjetischer Zeit also ist das Auto bestens für seine Aufgabe gerüstet. Die besteht darin uns fast auf Gipfelhöhe zu bringen, wo in der Nähe eines kleinen Bergsees Felsmalereien aus der Zeit zwischen 8.000 – 3.000 v.d.Z. gefunden worden. Genau datiert sind sie noch nicht, das übernimmt ein deutsches Archäologenteam in einigen Monaten.

Keine Geringeren als der oberste Wildhüter Armeniens nebst seinem Kumpel werden uns kutschieren. Zu Beginn geht es noch recht zivil in Richtung Gipfel später wird es allerdings so holprig, daß ich ernsthafte Zweifel an dem ganzen Unterfangen hege, da ich mir Sorgen mache ob Du diese automobile Bergtour heil überstehst. Immerhin fahren wir gerade einen erloschenen Vulkan nach oben und da geht mitunter über reines Gestein und Geröll, was uns alle ordentlich durchschüttelt.

“Kein Problem” kommt in der Stimmlage des Obersten Sowjet von Seiten Deiner Mutter und ich muss zugeben Du wirkst nicht gerade unglücklich während des Gehoppel. Nach einigen Minuten müssen wir anhalten, da die Motortemperatur zu hoch steigt, übrigens die einzige Anzeige die im UAZ zu funktionieren scheint. Der Tacho hüpft ständig zwischen 0 und 100 km/h hin und her, wird aber ohnehin nicht benötigt: Wir schaukeln im Schritttempo voran. Sobald der Motor schweigt und die kleine Gipfelstürmertruppe still sitzt, blickst Du völlig irritiert umher. “Was ist denn nun los” interpretiere ich Deinen Geichtsausdruck, wieso stoppt das lustige Vehikel. “Eine Frechheit jetzt wo es gerade richtig Spaß macht” scheinst Du kommunizieren zu wollen. Unser Fahrer besticht Dich mit einer winzig kleinen Birne die Du wohlwollend in Empfang nimmst und offensichtlich als Entschuldigung in Erwägung ziehst. Sogleich beginnst Du mit Deinen mittlerweile fünf vorhandene Zähnen das Fruchtgewächs in Einzelteile zu zerlegen. An dieser Stelle sei erwähnt, wer einmal Früchte und Gemüse aus dem Kaukasus gegessen hat, dem erscheint die Qualität mitteleuropäischer Supermärkte geradezu lächerlich. Und genau das scheinst Du in den vergangenen Tagen auch schon bemerkt zu haben, denn Dein Appetit wächst von Tag zu Tag. Zwei Elternherzen sind dabei natürlich überglücklich. Aber zurück zur Schaukeltour.

Nach einer Viertelstunde geht es weiter und Du kletterst auf den mütterlichen Arm, freust Dich mittels zappelnder Ärmchen und Beinchen das wieder geschaukelt wird bevor Du mich wieder einmal vollends verblüffst: Du schläfst ein! Die kleinen Arme um den Hals Deiner Mutter gelegt, die Beine in ihre Hüften gebohrt scheint Dich rein gar nichts aus der Ruhe zu bringen. Der Triumph Deiner Mutter ist schier grenzenlos: “Ich habe ja gesagt, das ist kein Problem mit ihr – Sie ist schließlich meine Tochter” tönt es voller Selbstbewusstsein aus ihr heraus. Das ist mittlerweile einer meiner Lieblingssätze, aber ganz im Geheimen platze ich fast vor Stolz, als unsere Begleiter aus dem Staunen über das kleine Kind aus Deutschland nicht mehr herauskommen. Es ist zwar Deine typische Mittagsschafenszeit, aber das Du das in der jetzigen Situation stoisch erledigst habe ich nun wirklich nicht vermutet.

Nach rund zwei Stunden mitunter halsbrecherischer Aufwärtsfahrt sind wir am petrografischen Höhepunkt angekommen und stehen vor einer Ansammlung scheinbar hingewürfelter Felsstücke die teilweise mit kleinen Figuren verziert sind. Mit etwas Phantasie erkennt man einen Mann und eine Frau und ganz gewiss ein Wildschwein wie uns versichert wird.

Ich gebe zu mit dem Wissen, daß es sich hier um wahrscheinlich Jahrtausende alte Kunstwerke handelt – aus einer Zeit da Kunst als formgebende Ausdrucksform noch gar nicht als solche bekannt war – ist es schon beeindruckend hier zu stehen, aber – unter uns – mich faszinieren die umliegenden Bergmassive um ein Vielfaches mehr. Die Wolken werfen umherziehende Schatten auf ein Panorama das wahrhaft atemberaubend ist.

Du bist derweil auf eine Picknickdecke umgezogen und spielst mit Deinen Lieblingswürfelchen.

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Und wer kann schon von sich behaupten einen Spielplatz mitten in den kaukasischen Bergen zu haben. Übrigens, wir sind auf 3.600 Meter ü. NN.