Der 101./ 49. Monat – Berliner Filmfritzen

Einer der spannendsten Aspekte unseres derzeitigen Mehrgenerationen-Zustandes ist vor allem, daß wir uns bekanntlich als heimelige Familie vor allem dadurch definieren „zuhause“ von unserer standardisierten Behausung abzukoppeln und schlicht gerne unterwegs sind. Das war nie anders und wird sich hoffentlich auch nie ändern! Bedeutet für Opa konkret, daß ihm die unterschiedlichsten Betreuungsformen zuteil werden. Aber da ist er glücklicherweise durchaus aufgeschlossen. Dieser Tage steht das jährliche Treffen der „Anonymen Analogiker“ in Berlin an – oder wie Sarah Sophie es nennt: „Papa trifft sich mit seinen Filmfritzen!“ Eine für viele sicherlich skurrile Veranstaltung die ich aber nun bereits seit mehreren Jahren organisiere.

Hier trifft sich eine bunte Runde durchaus verschrobener Köpfe, widmet sich ausnahmslos analogem Film und klopft sich auch mal gerne auf die gegenseitigen Schultern – stolz beflissen ihren Teil dazu beizutragen, daß es chemischen Film überhaupt noch gibt. Da gibt es dann alles: von Kunst bis Kitsch, von Trash bis Irgendwas, was überhaupt niemand mehr versteht – Hauptsache es ist auf echtem, perforiertem Film gedreht. Vor ein paar Jahren haben wir sogar versucht diesen paradiesischen Unsinn zu dokumentieren. Ich mittendrin – was soviel bedeutet: Mich gibt es an einem Wochenende eigentlich gar nicht. Aber eben nur „eigentlich“.

Irgendwann in den letzten Jahren haben wir angefangen vor dem samstäglichen Finale dieses Irrsinns eine Stunde „Kinderkino“ vorzuschalten, verbunden mit der festen Überzeugung auch dem kleinsten Nachwuchs echtes Kino nahe zu bringen. Freunde mit entsprechenden Kindern haben wir genug in Berlin – Problem ist nur, daß die gesamte Nummer eben bereits Freitagabend in irgendeiner Berliner Kneipe startet, ich zwangsweise equipmentmäßig mit dem Auto fahren muss und Sarah Sophie bis zum Nachmittag noch Schule hat. Ach ja: Opa und der Hund müssen ja auch noch verorganisiert werden. Aber man wächst ja bekanntlich an seinen Aufgaben und das geht dann so:

Für Euren Opa organisieren die mütterlichen Großeltern aus ihrem – ich bin mir sicher – unerschöpflichen Kreis von Jemandem der auf jeden Fall mindestens einen kennt, der wiederum mit einem Bruder von dessen Schwägerin gut bekannt ist, welche unverhohlen garantieren kann daß ihre Tante unter Zuhilfenahme der Großnichte für genau sowas grandios prädestiniert ist.

Jedenfalls kommt über das Wochenende jeden Abend Olga vorbei und versorgt Euren Opa. Der Hund macht einen Wochenendausflug zu Katja und Problem Eins ist gelöst. Eure Mutter weilt die Tage vor besagtem Wochenende kundenbedingt in der Nähe von New York und platzt irgendwann mit der frohen Botschaft ins Familienleben, bereits gegen Freitagmittag in Düsseldorf sein zu können. Also brauchen wir nur noch eine pünktliche Lufthansa, funktionierende Anschlussflüge und jemanden der Euch beide von Schule und Kindergarten abholt, zum Flughafen fährt und in die mütterlichen Arme treibt, damit ihr mit dann zu dritt nach Berlin weiterfliegen könnt. Diejenige ist schnell gefunden da Victoria, eine andere Freundin Eurer Mutter, ihren Sohn im gleichen Kindergarten umsorgen lässt wie wir Leo. Das Schule und Kindergarten direkt nebeneinander liegen habe ich ja bereits erwähnt und ich stelle wieder einmal fest, was exakt diese Kleinigkeit für einen unglaublichen Luxus darstellt.

Aufbruch zum Kinderkino, Dezember 2019, Berlin, D

Ich setze also Freitag morgen Sarah Sophie in den Schulbus, bringe Leo kurz darauf in den Kindergarten und starte Richtung Berlin. Zwischenstopp in Bochum um Thomas nebst einer Kiste klassischer Zeichentrickfilme einzuladen. Auf der Höhe von Hannover unterrichtet mich Eure Mutter voller Freude bereits in München gelandet und so gut wie auf eine frühere Maschine nach Düsseldorf umgebucht zu sein um das gewonnene Zeitfenster in der beliebten Pizzeria unweit der Schule zu verbringen, da ihr just jetzt einfällt, sich sowieso noch mit Katja (die mit dem Hund) treffen zu wollen, da sie selbstverständlich noch irgendwelche Geschenke für sie aus New York dabei hat. Kurz hinter Braunschweig vernehme ich mittels eines weiteren Telefonats die fröhliche Zusammenkunft der drei projektbezogenen Damen nebst Kinderanhang und ich weiß, daß spätestens jetzt niemand mehr außer Euch in der Pizzabude sitzt. Zwischen Magdeburg und Berliner Ring seit ihr in Düsseldorf eingecheckt und Thomas sagt gar nichts mehr. Noch bevor ich ihn in seinem Hotel absetze, vermeldet Eure Mutter erfolgreichen Tegeler Touchdown mit anschließender Fahrt zur Berliner Katja damit ihr beide noch etwas spielen könnt. Wahrscheinlich ist sie beängstigt ihr könntet Euch zu sehr langweilen.

Ich parke unseren Campingbus auf dem bekannten Wohnmobilstellplatz und mache mich auf zu den üblichen Verdächtigen. Hier sammelt Eure Mutter früher oder später noch den benötigten Schlüssel für das Tor zum Stellplatz ein und das wars auch schon:

Wir sind tatsächlich alle „zusammen“ angekommen. Kinderkino und der Rest der ganzen sinngebenden Veranstaltung am nächsten Tag sind wieder ein voller Erfolg und lediglich ein winziger Wermutstropfen wiegt über allem. Alle 16mm-Kinderfilme von Thomas kann er gar nicht mehr mit nach Hause nehmen, da wir vier alle – ganz unspektakulär in einem Auto zusammen – zurückfahren. Das ist natürlich verabredet und Thomas fährt folglich mit dem Zug nach Hause. Ganz ohne Filme, die haben wir dabei.

Aber das stört Euch beide komischerweise in den nächsten Wochen überhaupt nicht. Filmkultur geht eben vor!

Der 100./ 48. Monat – Hui-Buh

Euer Opa nebst Hund Carlos wohnen weiterhin bei uns, was mit fortschreitender Dauer – sagen wir mal – sehr ambitioniert wird. Das liegt an unterschiedlichen Faktoren. Grundsätzlich funktioniert das eigentlich ganz passabel aber ich muss gestehen mich dem Gefühl von „Täglich grüßt das Murmeltier“, nicht wirklich entziehen zu können. Jeden Morgen und jeden Abend wiederholt sich ein exakt gleiches Prozedere: Habt ihr beide Eure Portionen Cornflakes respektive das Abendessen verputzt, möchte Opa sich in den eingeübten, mittlerweile schon jahrelangen Ablauf einbringen und meint es sei eine gute Idee, Leo sein Schüsselchen vor der Nase wegzuziehen um sich damit in Richtung Küche aufzumachen. Das siehst Du natürlich gänzlich anders, denn das ist ja eben Dein Geschirr und das bringt auch nur einer in die Küche – nämlich Du ganz alleine. Ein Umstand den Euer Opa offenkundig schwer akzeptieren kann: Schlurft er um den Tisch herum wird er auf der anderen Seite von Dir gekonnt abgefangen und in Leos rustikaler Art von besagtem Behältnis wieder befreit. Lautstarker Rentnerprotest inkludiert. Artig sage ich jetzt mein tägliches Sprüchlein „(…) daß die Kinder gewohnt sind ihr Geschirr selbst wegzuräumen (…)“ auf um von meinem Vater belobigt geantwortet zu bekommen „Das sei ja auch richtig so!“ Das weiß ich, das wisst ihr und das weiß jetzt auch der Opa, aber eben nur bis heute Abend, denn dann kann ich garantieren, wiederholt sich das ganze Prozedere wirklich genau gleich. Klingt geschrieben ganz lustig, gelebt ist es allmählich schlicht anstrengend.

Das eigentliche Kernproblem ist allerdings ein ganz anderes. Es mangelt an einer Perspektive. Euer Opa kann unmöglich wieder alleine wohnen, das sieht sogar er selbst ein und ich tüftele mit ihm die verschiedenen Lösungsansätze durch. Wir sind uns einig, das es im Prinzip drei Möglichkeiten gibt:

1. Wir ziehen alle gemeinsam in eine größere Wohnung bzw. Haus damit Leo und Opa nicht mehr ein gemeinsames Zimmer haben, sondern jeder ein eigenes.

2. Wir mieten eine Wohnung für Opa in unmittelbarer Nähe zu uns, damit ich mich um meinen Vater kümmern kann und die Wege kurz sind.

3. Wir kümmern uns um eine dauerhafte Betreuungsperson für Euren Opa und er zieht wieder in sein Haus.

Die Idee “Betreutes Wohnen” stößt bei Eurem Opa nicht so ganz auf direkte Begeisterung und meine Vorschläge für eine gemeinsame große Wohnung werden mit dem stets gleichen Kommentar versehen: „Wir warten mal ab!“ Worauf weiß ich bis heute nicht – aber Euer Opa ist sehr veränderungsresistent. Am ehesten gefällt zwischenzeitlich die Wohnung hier ums Eck. Allerdings leider nur in der Theorie. Zu Besichtigungen der durchaus vorhandenen Angebote kommt es nie. Entweder ist die Wohnung zu groß, zu hoch, zu tief gelegen oder sonst irgendetwas missfällt.

Kurz gesagt: Wir kommen nicht weiter.

Euer Opa ist froh den Rollator frühzeitig in die Garage verbannen zu können und kommt seinem täglichen Bewegungsdrang folglich ohne Hilfsmittel in der gesamten Wohnung nach. Ulkigerweise vergisst er gerne mal, daß hier noch andere Menschen beheimatet sind und schleicht völlig lautlos von Zimmer zu Zimmer. Ob ihr beide da gerade spielt, Sarah Sophie Hausaufgaben am Schreibtisch erledigt oder Leo den Spielteppich in eine Puzzlelandschaft verwandelt: Egal, er muss da durch! Motorisch durchaus in der Lage die Klippen zweier Kinderzimmer zu umschiffen, aber nicht Willens kurzzeitig Anker zu werfen um vielleicht den örtlichen Bewohnern möglicherweise Gehör zu schenken. So zieht der Opa also seine Kreise und ihr beide gewöhnt Euch bemerkenswert schnell an dieses Skurrilitätenkabinett. Einzig Leo setzt noch einen drauf: Wahrscheinlich meiner Verweigerung geschuldet, Dir mehrmals täglich das iPhone als Unterhatungsvehikel zu überlassen, hast Du Hörspiele für Dich entdeckt.

Aber nicht irgendwelche sondern ausschließlich Hui Buh das Schlossgespenst mit der rostigen Rasselkette. Somit intonierst Du folglich das einzig behördlich zugelassene Gespenst von Schloss Burgeck zum einzig umherschlurfenden Opa im Hause Reichmann, den es wiederum überhaupt nicht stört wenn Gespenstergeschichten erzählt werden während er umhergeistert. Das ist schon spannend an sich aber nichts im Vergleich dazu, daß Euer Opa nur vier Wochen gebraucht hat um an einem einzigen Tag einfach mal Eure Schüsseln auf dem Tisch stehen zu lassen und sogar mit Leo ein Spiel zu spielen.

Wir brauchen eine Lösung! Bald!

Es hat gedauert – aber es hat geklappt: Sie spielen miteinander, November 2019, Düsseldorf, D

Eure Schüsseln bleiben seitdem übrigens gerne einfach auf dem Tisch stehen. Schon schön wenn alle etwas dazugelernt haben.

Der 99./ 47. Monat – Israel reloaded

Im Oktober zieht Euer Opa bei uns ein. Nicht ganz freiwillig, aber nach drei Wochen Krankenhaus kann und soll er nicht alleine wohnen. Leo räumt unter – verhaltenem anfänglichem – Protest sein Zimmer, sagen wir mal zur Hälfte, jedenfalls steht jetzt Opas Bett hier und Du findest Dich des Nachts entweder im Zimmer Deiner Schwester wieder oder bei uns im Schlafzimmer, je nach Lust und Laune.

Zurück zu Opas Einzug: Der muss nämlich auch zeitnah schon wieder temporär ausziehen, da die Herbstferien unmittelbar vor der Tür stehen und wir bereits am letzten Schultag nach Israel fliegen. Ich bin erstaunt, was es da so alles für Möglichkeiten gibt und auch Eurer Opa ist der Idee einer sogenannten Kurzzeitpflege absolut aufgeschlossen. Somit fahre ich Euren Opa in seine Teilzeitbleibe, den Hund zu Katja und uns ein Taxi zum Flughafen.

In Tel Aviv landen wir wieder mitten in der Nacht und starten mit einem kurzen Abstecher am Toten Meer zu einer Kamelfarm im Negev. Das ganze fühlt sich schon ein bisschen nach Déjà-‍vu an. Exakt zur gleichen Zeit im letzten Jahr waren wir hier sozusagen „ums Eck“ auf einer Alpakafarm, aber das tut Eurer Begeisterung für die diesjährigen Kamele wenig Abbruch, vor allem nachdem ich Euch eröffne, daß es nach der Übernachtung in dem Kameldung durchdrungenem kleinem Häuschen unmittelbar neben der Herde selbstverständlich auf einen zünftigen Ausritt auf den Wüstenschiffen geht. Da verzeiht ihr mir sogar das – sagen mir mal – spannende Abendessen unterm Baldachin.

Haben wir am nächsten Tag Wüste und Kamele abgearbeitet geht es endlich zu Sarah Sophies langgehegtem Herzenswunsch. Wir fahren nach Eilat am Roten Meer. Davon redest Du seit Monaten in einer Weise, daß mir die Dringlich- und Wichtigkeit wahrhaft nicht verborgen bleibt. Woher diese Begeisterung im Ursprung eigentlich kommt lässt sich nicht wirklich ergründen, ihren Höhepunkt erreicht sie aber sicherlich nachdem ich Dir eröffne was Dich hier erwartet. Wird hier zeitig genug aufgestanden und weiß wo man wo, besteht die Möglichkeit mit Delphinen in freier Wildbahn zu schwimmen. Ich kenne mittlerweile diverse Gefühlsausbrüche und Freude über alles mögliche bei Dir, aber diese Aussichten stellen alles bisher dagewesene in den Schatten. Am frühen Abend kommen wir am Südzipfel Israels an und unser Vermieter betreibt nicht nur ein kleines nettes Hotel sondern auch eine Tauchschule und kennt den begehrten Spot um Flippers Freunde. Es kommt einem Wunder gleich, daß Du überhaupt einschlafen kannst – noch erstaunlicher ist es aber, Dich morgens um fünf Uhr freiwillig wieder aus dem Bett heraus hüpfen zu sehen. Zu Schulzeiten wecke ich Dich mehr als eine Stunde später und das ist nicht selten ein sprichwörtliches Drama. Aber gegen Delphine wirkt natürlich auch ein bildungsmahnender Vater eher blaß – dessen bin ich mir durchaus bewusst. Jedenfalls sitzen wir keine halbe Stunde später inklusive Frühstück-Picknick-Körbchen im Auto und kurz darauf an einem wenig einladendem Strand. Wir scheinen aber richtig zu sein, da nicht alleine. Und tatsächlich tauchen die markanten Rückenflossen in unfassbarer Nähe zum Strand auf. Du bist nicht mehr zu halten und schnorchelst mit Deiner Mutter munter drauf los. Und bereits beim ersten Anlauf klappt es auch tatsächlich und Dein großer Wunsch geht in Erfüllung. Ich habe Dich definitiv noch nie so begeistert gesehen. Das das Ganze im morgendlichen Halbdunkel stattfindet macht das Prozedere noch eine Spur abenteuerlicher. Leo ist ebenfalls völlig aus dem Häuschen, obwohl er dem Spektakel lediglich mit mir zusammen vom Strand aus zuschaut – was Dir aber offenkundig auch völlig genügt. Sarah Sophies Grinsen hält jedenfalls den ganzen Tag an – kann aber prinzipiell auch gar nicht abnehmen, da Eure Mutter noch ein Highlight aus dem Hut zaubert. Am Migdalor Beach befinden sich die ersten Korallenbänke in unmittelbarer Nähe zum Ufer und die Fischvielfalt in allen Farben und Größen ist beeindruckend. In welchem Element ihr beide den Tag verbringt bedarf wohl keiner gesonderten Erläuterung. Drei Tage Eilat verstreichen in Rekordgeschwindigkeit und ich bringe jeden Abend zwei überglückliche Kinder ins Bett. Eltern mit Meerestier-affinem Nachwuchs garantiere ich hier berauschende Kindertage. Seitdem steht – zumindest für Sarah Sophie – unverrückbar fest wohin die Reise in den nächstjährigen Herbstferien zu gehen hat. Das wiederum stößt bei Eurer Mutter allerdings auf konsequent wenig Gegenliebe, da für sie bereits zwei Jahre in Folge, gelangweilte Ewigkeiten darstellen – von dreien ganz zu schweigen. Ich gehe davon aus, Du denkst bereits über geeignete Strategien nach.

Ein paar Tage später eröffnest Du deinerseits ganz nebenbei den nächsten Höhepunkt der Ferien. Valerie aus der besten Freundinnen-Riege der Schule ist aktuell ebenfalls auf Ferienreise in Israel. Selbstverständlich belatscherst Du uns erfolgreich hier entsprechend Kontakt aufzunehmen. Valerie hat, neben einer älteren Schwester, auch noch einen passenden kleinen Bruder in Leos Alter und es ist klar, mit wem wir den ein oder anderen Strandtag in Tel Aviv verbringen. Ab jetzt hast Du einen brüderlichen Verbündeten für die „Israel-2020-Strategie“. Leo und Jonatan sind bereits am ersten Tag die dicksten Freunde und Eure Mutter erwähnt vorsichtshalber ab sofort täglich mehrfach ihre alternativen Ferienpläne.

Tja und das nächste Argument steuert sie auch noch Eigentormäßig selbst bei. Wie derzeit jede Großstadt läßt sich auch Tel Aviv auf hippen E-Scootern erfahren. Dies, die ungemeine Gelassenheit israelischer Polizisten im Umgang mit Eltern-Kind-Besetzungen auf den Rollern, gepaart mit der Begeisterung Eurer Mutter für jeden Mobilitätsblödsinn lässt selbstverständlich keine Frage offen wir wir täglich durch die Stadt kommen. Ich gebe aber zu mich ebenfalls nicht wirklich dagegen zu wehren. Man soll sich ja der einheimischen Urbankultur anpassen. Für Euch beide sind die lustigen Gefährte ausschließlicher Bestandteil derselbigen – spätestens nachdem ich Euch versichere bei der deutschen Polizei weit weniger Akzeptanz dafür zu finden. Unumstößlich steht fest: Das darf man nur in Tel Aviv, Basta! Nach drei Tagen hat uns Sarah Sophie soweit, daß Du – zumindest auf dem Radweg am Strand – sogar alleine fahren darfst. Auch das irritiert die heimischen Ordnungshüter in keiner Weise – hier herrscht eben eine andere Gefahrengewichtung. Den kurzen Aufenthalt im Krankenhaus um Sarah Sophies Kinnwunde infolge einer böswilligen Bordsteinkante zu behandeln geht familienintern als Kollateralschaden durch und wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Herbstferien = Israel reloaded, Oktober 2019, Tel Aviv, IL

Nun sitzen wir im Flieger zurück nach Hause und besprechen gewiss rein zufällig nächstes Mal ein paar Tage länger in Eilat bleiben zu wollen. Denn dann kann Leo ja auch schon schwimmen und die Delphine warten sozusagen nur auf Dich.

Dein Schwimmkurs startet übrigens nächste Woche. Aber das ist bestimmt reiner Zufall und noch gar nicht Bestandteil der „Israel-2020-Strategie“.

Das heißt bei Leo dann: „Wir gucken mal!“

Der 98./ 46. Monat – Volksfestfeiertage

Der September besteht gefühlt ausschließlich aus Geburtstagen. Sämtliche Freundinnen und Freunde von Sarah Sophie scheinen jetzt Geburtstag zu haben oder feiern zumindest in diesem Monat. Dein eigener Geburtstag fällt wie immer mitten in die Sommerferien und dort möchtest Du verständlicherweise nicht feiern, da dann natürlich die Gästemenge urlaubsbedingt einer Selbstregulierung unterliegt die es zu verhindern gilt. Also lädst Du zum 1. September auf die bekannte Ponywiese und wir verbringen den ganzen Tag zwischen Smarty, Percy und Co und der Geburtstagsmarathon ist damit eröffnet. An den kommenden Wochenenden schaffst Du in Spitzenzeiten bis zu drei Kindergeburtstage an zwei Tagen und Deine Mutter und ich versuchen uns nicht anmerken zu lassen, daß wir die Wochenende bei bestem Spätsommerwetter vielleicht lieber woanders verbringen würden. Zumindest das letzte Wochenende des Monats bleibt frei und hier fangen dann auch schon die jüdischen Feiertage an, die bekanntlich nahezu alle im Herbst innerhalb von sechs Wochen angesiedelt sind. Los geht es mit RoshHaschana (Neujahr im jüdischen Kalender) was uns ein langes Wochenende beschert, denn Montag und Dienstag sind Schule und Kindergarten geschlossen. Da freundlicherweise an diesen niemand Geburtstag hat und Eure Mutter einen Kunden im Münchner Umland zu versorgen hat, heißt das im Hause Reichmann zwangsläufig Kofferpacken.

Vorher ist aber noch Carlos, unser neuer Familienhund, unterzubringen. Der ist durch eine nicht so schöne Geschichte bei uns gelandet. Meinem Vater ist leider genau das passiert, was ich ihm immer vorausgesagt habe: Er ist in seinem Haus gestürzt, konnte sich nicht selbst behelfen und ich habe ihn – entfernungsbedingt – erst viel zu spät gefunden. Er liegt im Krankenhaus und daher ist der Hund bei uns. Die vorangegangene, monatelange Überzeugungsarbeit – er solle sich eine Wohnung bei uns um die Ecke nehmen – ist leider fruchtlos geblieben. Zukünftig wird er erstmal bei uns einziehen, aber das ist wird dann mal eine andere Geschichte.

Ich bin erstaunt wieviele Hundepensionen es in und um Düsseldorf herum gibt. Carlos quartieren wir in Marions Tierparadies auf einen Bauernhof im Umland ein und starten in Richtung München. Da dort derzeit das Oktoberfest über die Bühne geht, entscheiden wir uns für einen Campingplatz außerhalb der Stadt mit S-Bahn-Anschluß wodurch Leo völlig aus dem Häuschen ist. Alternative Verkehrsmittel sind gerade hoch im Kinderkurs. Auf der Hinfahrt zählst Du mehrfach auf wie wir uns vor Ort bewegen und bist begeistert das S- und U-Bahnen zum Repertoire gehören. Eine Begeisterung die Eure Mutter – sagen wir mal umsichtig – vielleicht im theoretischen Kern noch teilt, sich aber ansonsten trotzend-tapfer in ihr bevorstehendes Bimmelbahn-Wochenende fügt.

Und da gibt es natürlich noch eine Hürde zu überstehen: Euch beiden bleibt nicht ganz verborgen was denn dieses Oktoberfest eigentlich ist und an einem solchen Riesen-Rummel vorbeizukommen wenn man Euch im Schlepptau hat ist ein eher unsinniges Unterfangen. Nach Dom im Norden also jetzt Wiesn im Süden. Ich erwähne sicherheitshalber bei Eurer Mutter, daß der Hamburger Dom auch irgendwann im Winter stattfindet und bin froh das es dann weder Feiertage, noch Norddeutsche Kundentermine gibt. Wir scheinen somit im Volksfestfinale des Jahres einzulaufen.

Bestes Wiesnwetter, September 2019, München, D

Samstag shoppen sich die Damen gemütlich durch die Münchner Innenstadt bevor es dann am Sonntag bei strahlendem Sonnenschein auf die Theresienwiese geht und Euer ganz persönlicher Kirmes-Contest „Nord gegen Süd“ beginnt. Es ist brechend voll, aber das stört Euch beide überhaupt nicht. In Punkto Bewegungsfreiheit geht der erste Punkt ganz klar an den Norden, aber die Achterbahndichte lässt München wieder ausgleichen. Sarah Sophie ist nicht mehr zu halten: Loopings und Geschwindigkeiten können derzeit nicht groß, lang und wild genug sein, wodurch ich eine dauergrinsende Achtjährige an der Hand halte. Selbst die langen Wartezeiten nimmst Du billigend in Kauf und ihr beide guckt auch nur einmal zutiefst betrübt, als wir Euch eröffnen, daß bei drei Fahrgeschäften pro Nase Schluss ist und Sarah Sophie mich auch erstaunlich nur auf vier hoch verhandelt. Nein, Autoscooter zählen – wie immer – nicht dazu, die gibt es on top. Das ist eine geheime Konvention zwischen Euch und mir, da Sarah Sophie schon vor Jahren herausbekommen hat, daß ich auf einem Rummel problemlos an allem was fährt und fliegt vorbeigehen kann. An allem – bis auf Autoscooter. Eure Mutter wundert sich übrigens über dieses ungeschrieben Zusatzprotokoll immer wieder. Worüber wir uns wiederum immer wundern.

Leos aktueller Favorit solcher Veranstaltungen ist das gemeine Riesenrad in allen Größenordnungen. Das finde ich für eine Dreijährigen auch völlig logisch, denn so verschaffst Du Dir eben einen allumfassenden Überblick. Das ist für Eure Mutter natürlich alles viel zu langsam und so verwundert es kaum, das die Damen im Looping auf dem Kopf stehend umher rasen und die Herren gemütlich von oben herabschauen. München liegt einen Punkt vorn. Es gibt eindeutig mehr Riesenräder. Der Rest geht für Karussells und Geisterbahnen drauf. Beim Kettenkarussell pocht Leo aber vehement darauf zur Hamburger Version zu wollen und es wird wohl immer Dein kleines, feines Geheimnis bleiben, warum. Jedenfalls verlassen wir mit einem eindeutigen Unentschieden die Wiesn.

Auf der S-Bahn-Fahrt zurück mosert Eure Mutter übrigens die ganze Zeit darüber, daß Sarah Sophie den angeblich nicht verhandelbaren Autoscooter gegen eine weitere Achterbahn getauscht hat und sie bei dieser Fahrt im Übrigen noch nicht mal dabei war.

Aber ich erwähnte ja bereits wie ungern sie S-Bahn fährt.

Der 97./ 45. Monat – Die Ostsee im Wald

Am 31. Juli verabschiedet sich Leo aus seinem „kleinen Kindergarten“ um gegen Ende August – etwas widerwillig – seine Karriere im „großen Kindergarten“ zu starten. Das sollte selbstverständlich, ebenso wie bei Sarah Sophie, der Waldkindergarten sein. Anmeldung und Platzzusage haben wir erfolgreich hinter uns gebracht, als dann irgendwann über Umwege die skurrilsten Nachrichten aus dem Wald bei uns eintreffen. Das Ganze ist eine Elterninitiative, deren maßgebliche Ausrichtung und Funktionsweise von dem jeweils gewählten Vorstand aus der Elternschaft bestimmt wird. Das weiß ich noch aus eigener Erfahrung, da ich zu Sarah Sophies Zeiten zwei Jahre daran beteiligt war und fleißig mitgewerkelt habe. Das macht viel Spaß, aber zugegeben auch etwas Arbeit, die sich lohnt, da ich zu einhundert Prozent von der Idee Waldkindergarten überzeugt war und bin. Und genau das tut der aktuelle Vorstand auch, allerdings in äußerst interpretativ-pädagogischer Auslegung. Als erstes bekommt die langjährige Kindergartenleitung sozusagen den Stuhl vor die Tür – beziehungsweise vor den Wald – gesetzt und wird fristlos gekündigt, dann werden mal eben elementare Grundregeln und Rituale außer Kraft gesetzt damit sich die Kleinen nach einer wie auch immer zu verstehenden „Bedürfnisorientierten Pädagogik“ frei entfalten können. Was in den 1970er Jahren als “Antiautoritäre Erziehung” maßlos gescheitert ist, muss man – meines Erachtens – nicht zwingend anders benennen und erneut versagen lassen. Wenn Du drei Jahre nicht nur auf Bäumen sondern auch noch auf den sprichwörtlichen Nasen der Erzieherinnen herumtanzen darfst, möchte ich mir nicht vorstellen was bei uns zuhause los ist, von Deinem anschließenden Schulstart ganz zu schweigen. Damit ist das Ganze vom Tisch, ich melde Leo ab und wir stehen ohne Kindergarten da. Jeder sucht sich eben seine eigene Herausforderung.

Und hier erleben wir Eure Mutter in diesen Tagen in absoluter Hochform. Ich weiß nicht ob sie bei der Terminanfrage schon erwähnt hat, daß wir den Kindergartenplatz noch für dieses Jahr benötigen, jedenfalls kommt nach ein paar Tage ernsthaft die schriftliche Zusage, daß Leo ab Ende August den Kindergarten der Gemeinde besucht, der sich praktischerweise direkt neben Sarah Sophies Schule befindet und nebenbei erfahre ich auch noch, daß die Dame die bei Leos Turnen öfter neben mir auf der Bank sitzt, zufällig die Kindergartenleitung inne hat und sich selbstverständlich während der Verhandlungen mit Eurer Mutter an uns beide erinnert. Ganz klar: Masel Tov!

Damit sind die administrativen Dinge abgearbeitet und wir wissen nun, daß nach den noch ausstehenden drei Wochen Sommerferien Deine „Große Kindergartenzeit“ beginnt und Sarah Sophie sucht bereits jetzt schon Deine Kipa aus, damit Du auch korrekt ausstaffiert vorstellig werden kannst.

Sarah Sophie geht zum Sommercamp der Gemeinde wo wieder ihre halbe Klasse anzutreffen ist und wir beide vertrödeln nicht selten ganze Tage am See oder im Zoo. Damit die Ausflugsdichte aber nicht unter Normalmaß sinkt, hat Eure Mutter diejenige Kundschaft mit den abstechertauglichen Zielen jeweils an ein Wochenende geheftet und wir fahren mal wieder einfach mit.

Es geht zunächst in die Nähe von Hannover und später nach Hamburg. Bekanntlich beides im Norden gelegen, wodurch ich auf die aberwitzige Idee komme, die Wochenenden jeweils an die Ostsee zu verlagern.

Soweit die Theorie!

Die erste Tour führt uns nach Aerzen wo wir direkt auf dem Parkplatz des Kunden campieren, entlassen Eure Mutter morgens zur Arbeit und trollen uns auf die benachbarte Sommerrodelbahn auf der Ihr beide nicht müde werdet immer wieder in den Bob zu klettern. Nachdem wir Eure Mutter abends wieder eingesammelt haben, starten wir Richtung Grube an der Ostsee. Da kommen wir auch gegen zehn Uhr abends an, ihr schlaft bereits und Eure Mutter bettet Euch wie immer um. Alles wie üblich, nichts besonders – das folgt erst am nächsten Morgen. Es ist bewölkt und entgegen der Temperaturen der vergangenen Tage recht kühl. Ihr beide lugt bei mäßiger Begeisterung aus dem Fenster. Warum ich nun ernsthaft auf den Wetterbericht von Berlin schaue ist mir nicht wirklich erklärlich, jedenfalls halte ich Euch selbstverständlich die sonnigere Wetterlage der Hauptstadt nicht vor und Leo vergewissert sich lediglich noch ob dort auch Cami, die bereits bekannte Cockerspaniel-Dame, anzutreffen ist. Nachdem ich das mit einem einfachen „Ja“ beantworte hüpfst Du von Deinem Platz, räumst Deinen Teller in die Spüle und guckst mich erwartungsvoll an: „Komm, mach den Tisch runter, wir fahren doch nach Berlin!“ ist die genauso knappe wie einfordernde Antwort meines Sohnes. (Zur Erklärung: In unserem Camper muß man den Tisch absenken um die beiden Kindersitze platzieren zu können.) „Ja, aber wir wollten doch ans Meer!“ entgegne ich noch hilfesuchend während Sarah Sophie ebenfalls alles zusammenpackt. „Papa, Du kannst uns doch nichts von Berlin erzählen und dann passiert nichts!“ bekomme ich als Antwort. Mein Anmerkung, daß wir dann doch auch gestern Abend direkt nach Berlin hätten fahren können, das wäre sogar näher gewesen, geht fast im Umbau unter. Lediglich Eure Mutter kann sich natürlich nicht das letzte Wort nehmen lassen: „Ja, selbstverständlich! Wer wollte denn hierhin?“ Weiter kommt sie nicht, da sie bereits ihre Freundin Katja telefonisch von unserer bevorstehen Ankunft in Berlin unterrichtet. Ostsee Part I gilt wohl als gescheitert.

Zwei Wochen später folgt der zweite Versuch. Diesmal versuche ich Scharbeutz an den Mann oder besser gesagt die Familie zu bringen. Diesmal muss Eure Mutter ein paar Tage in Ahrensburg tätig werden und wir planen, sie die knapp 60km mit dem Mietwagen morgens und abends hin- und herfahren zu lassen, damit Ihr die Tage am Strand verbringen könnt. Bleibt aber ebenfalls Theorie – wir haben uns jedoch weiterentwickelt und fahren keine sinnfreien Umwege mehr. Diesmal fragt mich Sarah Sophie vor dem Trip ob es Quallen in der Ostsee gibt, was ich selbstverständlich ordnungsgemäß mit „Ja“ beantworte und Du schleppst Dein „Buch der Tiere“ heran in dem natürlich auch giftige Vertreter der bekannten Nesseltiere dargestellt sind. Das wars, Eure Mutter schaut einmal in das Buch und ich suche einen Campingplatz in der Nähe von Hamburg.

Elbe statt Ostsee, August 2019, Hamburg, D

Ostsee Part II ebenfalls kläglich gescheitert – ich gebe hiermit offiziell auf, Euch an die deutschen Küsten zu bekommen. Aussichtslose Unterfangen liegen mir nicht.

Dom statt Rheinkirmes, August 2019, Hamburg, D

Wie Sarah Sophie nun herausgekriegt hat, daß zu der Zeit der Hamburger Sommerdom geöffnet hat und ihr beide sozusagen einen automatischen Anspruch auf einen dortigen Besuch habt, habe ich verdrängt. Eveuntuell habe ich mich wieder verquatscht und bestimmt nur ganz am Rande erwähnt, das ihr ja die Düsseldorfer Rheinkirmes urlaubsbedingt verpasst habt.

Ich stelle fest mit Lauterkeit kommt man ganz schön weit – nur nicht an die Ostsee!

Der 96./ 44. Monat – Der 100. Geburtstag

In den vergangenen Wochen gab es oft nur ein Thema: „Die große Party“ wie Sarah Sophie unseren “100. Geburtstag” umgedeutet hat. Da wir alle zusammen in diesem Jahr einhundert Jahre alt sind (Leo 3, Sarah Sophie 7, Eure Mutter 40 und ich 50) haben wir beschlossen nahezu die identische Truppe unserer Hochzeitsparty von vor zwei Jahren wieder einzuladen und mit ihnen eine Woche zu feiern. Auch diesmal sind wir in Italien gelandet, obwohl ich alles dafür getan habe in Frankreich unterzukommen, aber wer kann schon Eurer Mutter widerstehen wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Also Badia Tedalda in der Toskana, wieder irgendwo im Nirgendwo, denn Häuser für mehr als 40 Personen sind entweder unbezahlbar oder verdammt rar gesät.

Da wir Kinder so ziemlich jeder Altersklasse unterbringen müssen, haben wir uns – zur großen Freude von Sarah Sophie – entschlossen je ein großes Zimmer für die Mädchen und eins für die Jungs einzurichten. Sozusagen Elternfreie-Zonen und die sehen nach noch nichtmal einem Tag auch genau so aus. Aber es soll ja jeder glücklich werden. Da wir die Sommerferien verschiedener Nationen und Bundesländer unter einen Hut bringen müssen, bleiben lediglich zwei vakante Wochen übrig und wir starten an Sarah Sophies letztem Schultag unmittelbar von der Schule Richtung Italien. Die Idee sozusagen vor der ersten großen Urlauberwelle vorneweg zu fahren geht glücklicherweise auf und wir kommen fast staulos am Gardasee an. Den habe ich uns, in der irrigen Annahme ihr beide findet es ganz gut am Vormittag noch ein paar Stunden am See zu verbringen, als Zwischenübernachtungsziel ausgeguckt, bevor wir die letzten 360km hinter uns bringen. Das Projekt ist dann allerdings kläglich gescheitert und wird von Leo in nur einem Satz vom Tisch gewischt. „Und wo bitte ist der Sand?“ erfragst Du sichtlich irritiert, nachdem wir morgens vom Campingplatz zum Strand spazieren. Im Anschluss an meine Erklärung, daß es hier keinen Sand gibt verdrehst Du die Augen und setzt noch einen drauf: Mit den Worten „Komm Sarah Sophie wir können weiterfahren – hier ist ja nix für uns!“ nimmst Du Deine Schwester an die Hand und machst auf dem Absatz kehrt. Eure Mutter und ich gucken uns ein wenig verdutzt an, zahlen die Übernachtung und fahren mit Euch eben weiter. Die Suche nach einem Campingplatz hier in der Gegend, welchen man auch mitten in der Nacht anfahren kann hat etwa zehnmal solange gedauert wie Euer Strandbesuch. Wieder etwas gelernt. Dafür sind wir bereits mittags vor Ort und stellen fest, daß sich direkt neben unserem Haus ein kleines Restaurant befindet welches sich mittags als Trattoria und abends als Pizzeria entpuppt und uns in den folgenden Tagen noch sehr gute Dienste leisten wird. Jetzt gibt es erstmal Pasta und Aranciata für Euch und Birra Moretti für Eure Mutter und mich. Wir sind sozusagen im doppelten Sinne angekommen.

Und genau das tun im Laufe der nächsten 24 Stunden auch alle unsere Freunde. Also fast alle. Denn in unseren Geschichten trifft es immer einen, bei dem es schiefläuft. Beim letzten Mal sind die Armenier am falschen Bahnhof gestrandet und diesmal meint Austrian Airlines das vier Länder an einem Tag doch eine gute Idee sind. Zunächst startet der erste Flug der Hamburger Fraktion um meinen Filmerkumpel Friedemann so spät, daß der Anschlussflug in Wien weg ist, geleitet sie dann deswegen nach Amsterdam, um am Ende in Florenz die Losung auszugeben: Alle da, Gepäck kommt morgen! Immerhin das stimmt dann auch und Hamburg trifft somit „leicht“ verspätet ein.

Der 100. Geburtstag, Juli 2019, Badia Tedalda, I

Zurück zur Pizzeria: Nachdem der versammelten Kinderschar deren Existenz bewusst wird, bedarf es wohl keiner Erklärung was es zum Abendessen zu geben hat. Und die Bestellung gestaltet sich ziemlich simpel. Nachdem ich anfangs noch ernsthaft versucht habe herauszufinden, wer was auf seiner Pizza mag, bin ich nach der Hälfte der Befragung zum Globalprinzip übergegangen: will meinen ich habe einfach die ganze Karte einmal von oben nach unten bestellt. Übrig geblieben ist, nebenbei bemerkt, nichts. Am nächsten Tag haben wir das ganze noch weiter professionalisiert, da nun auch die Erwachsenen partizipieren wollen. Das geht dann noch einfacher: Einmal Karte runter und wieder rauf – alle satt. Ab diesem Tag haben wir dann auch den Wein kistenweise über die Theke geschoben bekommen inklusive Naturalrabatt in gleicher „Währung“. Ich glaube der Wirt mag uns.

In diesen Tagen erwäge ich übrigens Euch beide nur noch in großen Gruppen zu verköstigen, da ich während der gesamten Woche nicht einmal die Verschmähung des Essen Eurerseits erlebt habe. Eine Vielzahl Kinder gleichzeitig zu Tisch zu bitten entfesselt eine undefinierbare Gruppendynamik die lediglich mit der Raubtierfütterung eines Zoo vergleichbar sein dürfte. Da der Pizzaofen mittags kalt bleibt sind wir Eltern somit gefordert. Und es macht zugegeben herrlich Spaß zu sehen wie 21 Kinder einen Riesentopf Pasta förmlich inhalieren.

“Raubtierfütterung”, Juli 2019, Badia Tedalda, I

Da fällt es fast gar nicht mehr ins Gewicht, daß wir irgendwann auf die Idee gekommen sind die Fritteuse in der Küche anwerfen zu wollen. In einer großangelegte Schnippelaktion schneidet ihr Kinder einen Berg von Kartoffeln in die bekannte Stäbchenform um dann damit konfrontiert zu werden, daß die Fritteuse überhaupt nicht funktioniert.

Pommes statt Pizza – oder auch nicht, Juli 2019, Badia Tedalda, I

Macht ja nix denken sich die neunmalklugen Eltern und erhitzen mal eben 40 Liter Sonnenblumenöl in zwei ordentlich dimensionierten Töpfen. Und damit nimmt das Elend auch schon seinen Lauf. Das einzige was bei der Aktion frittiert wird ist ein Teil meiner rechten Hand als ich versuche in gekonnter Manier die Pommes frites in den Topf zu beordern. Erwachsene können so dermaßen dämlich sein, daß es im wahrsten Sinne des Wortes weh tun muss. Ähnlich experimentierfreudigen Genossen empfehle ich dringend russische Hausmittel gegen Verbrennungen bereitzuhalten. Fritten gab es übrigens nicht, wir haben nur kartoffelige Pampe aus dem Topf gehoben. Ich weiß bis heute nicht warum das nicht geklappt hat, jedenfalls sieht kindliche Begeisterung anders aus.

Nach drei Versuchen geben wir auf und gucken in tieftraurige Gesichter. Aber nicht lange, denn da war doch noch was:

Einmal die Karte rauf und runter bitte, es gibt Pizza und das Problem ist gelöst. Von misslungenen Pommes frites habe ich übrigens nie wieder etwas gehört.

Ich glaube es ist eine gute Idee hundertste Geburtstage grundsätzlich in Italien zu feiern.