Zu Beginn Deines 35. Lebensmonat erlebt Düsseldorf am Abend des Pfingstmontag einen derart gehörigen Sturm, daß die folgenden Tage das öffentliche Leben ernsthaft eingeschränkt sind. Ganze Straßenzüge sind nicht befahrbar und überall sieht es aus wie nach einem Bombenangriff nur mit stehengebliebenen Häusern. Das eigentliche Wetterchaos hast Du zwar gemütlich verschlafen denn der rheinische Weltuntergang tobte ab etwa 21 Uhr für lediglich eine gute Stunde; in dieser aber derart ordentlich, daß in den Tagen danach sogar Kettenfahrzeuge der heimischen Armee in den Stadtwäldern eingesetzt werden um der Schäden Herr zu werden. Dein Kindergarten hat am folgenden Dienstag unabhängig von der Wettersituation ohnehin geschlossen womit Deine Betreuung bei den mütterlichen Großeltern liegt. Die aber zu Erreichen ist gar nicht so leicht, denn wo Kubikmeterweise Bäume umherliegen muss man erstmal durchkommen, oder besser gesagt darüber kommen.
Ich erkläre Dir bereits direkt nach dem Aufwachen die Lage und zeige Dir vom Fenster unsere Straße die allerdings nicht wirklich wie eine solche aussieht, sondern vielmehr einem Dschungelpfad mit (noch funktionierender) Ampelanlage gleicht. Nachdem wir auf der Straße angekommen sind kann ich Dir Dein Unverständnis unserer geringfügig geänderten Umgebung deutlich anmerken: “Papa, warum sind denn die Bäume umgefallen?” ist Deine erste verständliche Frage in meine Richtung. Noch bevor ich antworten kann kletterst Du auf eine der zahlreichen neugeschaffenen Straßensperren um Deinem Unmut ob dieser Situation resolut Ausdruck zu verleihen: “Ich mag nicht wenn die Bäume umfallen, die müssen doch stehen bleiben.” ist Deine logische wie auch verständliche Reaktion auf unsere kleine Naturgewalt. Ich erlebe Dich erstmals in Deinem Leben wirklich entrüstet. Du verstehst das ganze nicht und es gefällt Dir auch nicht. Auf dem Weg zu den Großeltern – den wir zwangsweise zu Fuß absolvieren – bleibst Du an wirklich jedem umgestürzten Baum stehen und stellst mir mittlerweile gebetsmühlenartig immer wieder die gleiche Frage: “Warum sind die Bäume umgefallen?” “Weil es einen Sturm gab.” “Was ist denn ein Sturm?” und so weiter. Kurz vor dem großelterlichen Haus erreicht Deine Verwunderung ihren Zenit.
Ein riesiger Baum liegt vor einem Haus und sein freiliegendes Wurzelgeflecht hat den halben Bürgersteig aufgerissen. Du bleibst regungslos davor stehen und es dauert einige Minuten bis Du mich fragst warum denn hier die Straße umgefallen ist. Ich erkläre die Sachlage und so langsam wird mir ersichtlich wie das ganze auf Dich wirken muß. Wenn man die Größenverhältnisse auf einen Erwachsenen überträgt stünde ich also vor einer Baumwurzel die eine Durchmesser von gut 20 bis 30 Meter hätte und das Loch im Trottoir mäße ein halbes Fußballfeld. Viel spannender ist allerdings der Umstand, daß Du heute das erste Mal einen Baum sozusagen von unten siehst. Denn Wurzeln sind Dir bis dato unbekannt. Du deutest auf die Wurzeln und erkundigst Dich danach ob “das die Haare von dem Baum” sind? “Nein.” antworte ich, “die Haare sind doch auf dem Kopf, also oben.” Das leuchtet Dir ein und Du erkletterst den Baum in Richtung Krone. Dort angekommen strahlst Du mich an und wedelst mit ein paar Blättern. “Guck mal Papa, das sind Baumhaare.” Und wenn Bäume neuerdings Haare haben, dann haben Sie auch Füße – das erscheint irgendwie logisch. Du kletterst also wieder herunter, läufst um den Baum herum und präsentierst mir freudestrahlend die “Baumfüße” indem Du am Wurzelwerk herumfuchtelst. Ich sage erstmal gar nichts, bemerke aber daß Dich irgendetwas beschäftigt. Es dauert ein paar Minuten und dann fällt Dir auf, daß – wer Füße hat mit eben diesen auch vor einem Sturm davonlaufen kann. “Warum ist denn der Baum nicht weggelaufen?” vernehme ich Deine Stimme. “Weil seine Füße unter der Erde sind. Bäume können gar nicht laufen.” hoffe ich die Erklärung wieder halbwegs sinnvoll zu gestalten. “Warum können denn Bäume nicht laufen?” ist die nächste Frage. ” Weil sie immer am selben Platz stehen müssen und sonst kann sich ja kein Kind seinen Lieblingsbaum aussuchen auf den es dann besonders gerne klettert. Außerdem würde ja unsere Hängematte im Urlaub mit den Bäumen weglaufen und dann müssten wir sie immer suchen gehen.” Das leuchtet Dir ein, da Du unsere Hängematte sehr magst und, wann immer sich die Möglichkeit bietet, in ihr umherschaukelst. Wir verständigen uns also darauf, daß Bäume nicht laufen können und besser immer stehen bleiben.
Aber genau das ist ja gegenwärtig das Problem, welches Dich nachhaltig beschäftigt. Noch Wochen nach dem Tag des rheinischen Regenwaldes zeigst Du mir immer wieder umgestürzte Bäume und vergisst niemals zu erwähnen, daß dies überhaupt nicht nach Deinem kleinkindlichen Geschmack ist. Um die Sache irgendwie wieder rund zu bekommen schlage ich vor einfach einen neuen Baum zu pflanzen. Die Idee findet Deinen Zuspruch und Du planst bereits die erneute Begrünung unserer Heimatstraße.
Als wir endlich bei den Großeltern eingetroffen sind stürmst Du auf Deinen Opa zu und eröffnest Ihm alle Neuigkeiten. Bis zum Abend hat sich die Geschichte dann noch geringfügig geändert: in der Zwischenzeit hast Du nämlich beschlossen für jeden umgefallenen Baum einen neuen zu pflanzen, das wären dann also 20.000.
Vielleicht gründen wir die erste Papa-Kind-Baumschule. Aber diesen Vorschlag behalte ich erstmal für mich.