Der 30. Monat – Ich glaub’ Du stehst im Wald

Eines der wenigen, aber wirklich wichtigen Dinge, in denen Deine Mutter und ich ausnahmsweise einmal einer Meinung sind, ist der Umstand, daß Du ab dem folgenden Kindergartenjahr eine andere Einrichtung besuchen sollst – sprich wenn Du in die sogenannte “Über 3”-Kategorie fällst. Da bekanntlich Normal jeder kann sucht Deine Mutter selbstverständlich das Besondere und platzte bereits vor Deiner Geburt mit der Idee eines Waldkindergarten in die pränatale Familienorganisation. Ganz ernst genommen habe ich das natürlich nicht – erstens erschien mir das damals ordentlich weit weg und zweitens ist es unmöglich jeder Idee Deiner Mutter unmittelbar Folge zu leisten da hierfür eine Art Zweitleben nötig wäre, so mannigfaltig sind meist Ihre Ideen und Absichten.

Aber jetzt steht nun leider diese Entscheidung an. Einen Waldkindergarten stelle ich mir in Form einer Art Einrichtung für Nachwuchshobbypartisanen oder Survivaljunkies vor. Im Sommer prima – im Winter eine Katastrophe. Zumindest für eventuell, möglicherweise zu besorgte Väter. Da ich Dir jedoch eine möglichst vorurteilsfreie Weltsicht angedeihen lassen möchte heißt es hier mit guten Beispiel vorangehen. Also zieht die kleine Familie an einem kühlen Januartag bei 6 Grad Höchsttemperatur in den Wald. Wir sind Gäste der Waldwichtgruppe und werden herzlich als die heutigen Hospitanten begrüßt. Die feuerwehrroten Bauwagen gehören gar nicht zu einer Lagerstätte gesellschaftskritischer Alternativbewohner sondern sind die einzige überdachte und beheizte Räumlichkeit weit und breit für die kleinen Urbanüberdrüssigen. Es ist also genauso schlimm wie erwartet.

Einzig auffällig ist, daß die Waldwichtkompanie nicht in passendem Camouflage umherstolpert sondern sich die Logos bekannter internationaler Outdoormarken sozusagen die Hand geben. Das wiederum beruhigt mein pazifistisches Gewissen.

Der erste Offizier – Verzeihung die Gruppenleiterin – befehligt das Abladen unnötiger Ballaststücke und wundert sich über Deinen zu klein ausgefallenem Rucksack. Es bleibt mir natürlich nicht verborgen das Deine zukünftigen Waldwichtkameraden eher nach Gepäckmarsch als nach Kindergartenspaziergang aussehen. Ich versuche unauffällig bei einem gerade sein Kind abliefernden Elternteil nachzufragen. Klappt natürlich nicht, da mich der besagte Vater fast auslacht mit den Worten “So verstört habe ich auch letztes Jahr hier gestanden – aber in den Rucksack muss ja alles was die Waldkameraden so den ganzen Tag brauchen.” “Sie kommen nicht zwischendurch hierhin zurück?” frage ich erschrocken zurück. “Nein, nein, das geht ja gar nicht – dazu ist der Wald ja viel zu groß”. Ich denke über truppenzersetzende Sabotageakte nach. Aber da geht es auch schon los. Das erste und zweite Zug des Waldwichtregiment setzt sich planmäßig Richtung Anhöhe in Bewegung um sich dort zu einem Lagerkreis zusammenzufinden.

Du taperst natürlich mit Deiner Mutter am Kopf der Truppe vorneweg, während ich mit einer ortskundigen Begleitung die Nachhut bilde um mich gleich auf Stand bringen zu lassen wie das hier so funktioniert. Das wir Mitglied einer sogenannten Elterninitiative werden wollen scheint Deine Mutter – sicherlich völlig unabsichtlich – irgendwie vergessen zu haben in meine Richtung zu kommunizieren. Aber nun weiß ich ja Bescheid.

Die wahrscheinlich einzige Gemeinsamkeit der Waldtrolle mit einem “normalem” Kindergarten ist der Umstand, daß es mehr Bewerber als Plätze gibt und wir somit in ein wie auch immer geartetes Auswahlverfahren geraten um Dich täglich der freien Natur aussetzen zu dürfen. Ich höre von Umbauarbeiten an den Bauwagen, der Vergrößerung des Platzes und weiß der Henker nicht für tollkühnen Handwerkertaten. Zum allgemeinen Verständnis: Mein Werkzeugkasten besteht aus einer kleinen weißen Papiertüte die mit einem Hammer und drei, vier Schraubendrehern gefüllt ist – womit wohl hinreichend erklärt ist mit welch rudimentärem, handwerklichen Geschicke ich gesegnet bin. Der Handwerkliche Herold neben mir bugsiert sich sogleich in den “Hör mal wer da hämmert” – Vordergrund und kippt noch einen obenauf. Durch seine Schichtarbeit habe er auch schonmal tagsüber Zeit für anfallende Tätigkeiten. Ich stehe da wie ein vollkommener Idiot. Na Bravo.

Die erwähnte ortskundige Begleitfrau eröffnet mir nebenbei, daß es bei der Eltern-Kindauswahl wahrlich nicht nur um Sympathie gehe, sondern daß sie – geradezu gezwungen – auch um die Möglichkeiten der Mitarbeit selektieren müsse. Innerlich verabschiede ich mich vorsorglich mental vom Waldwichtwunderland und gelobe in Zukunft mehr Zeit mit Dir draußen zu verbringen. In der Zwischenzeit sitzt die kleine Forstgemeinde bereits an ihrer morgendlichen Lagerstätte und vergnügt sich mit ebenso fröhlichen wie klimatisch notwendigen Aufwärmübungen.

Beim ersten Spiel des Tages verstecken sich zwei Kinder mit Holzstückchen hinter irgendwelchen Bäumen, klappern etwas und ein weiteres Kind aus der Gruppe muss diese dann geräuschhorchend orten und finden. Du schaust Dir die Systematik zwei Runden an und nachdem dann die Aufforderung in die Runde ergeht, wer jetzt den “Specht” – so der Name des Spiels – suchen möchte, sehe ich beherztes Hervortreten Deinerseits verbunden mit der Einforderung hier nicht länger außen vor zu bleiben. Unter den betreuenden Waldscouts herrscht anerkennende Bewunderung ob Deiner Gruppenschnellintegration.

Nach dem Frühstück arbeiten sich die Waldwichte und wir weiter in unwegsames Gelände vor und Du beschließt die schützende mütterliche Hand lieber zu verlassen. Verständlich, willst Du doch offensichtlich ernsthaft Teil dieser Temporärureinwohner werden. Aber Deine Mutter kann natürlich auch schwerlich mit dem einzigen männlichen Teil der Truppe mithalten, den der knüpft gerade eine Art Hängematte die als Großgruppenschaukel dienen soll zwischen Bäumen zusammen und das erfordert selbstredend Deine volle Mitarbeit. Deine Mutter und ich stehen nicht ganz unverzückt etwas abseits und lassen Dich einfach mal machen. “Die nehmen uns nie” merke ich an und werde von Deiner Mutter leider bestätigt. Zum Abschluss muss ich einen Fragebogen ausfüllen, in dem anzukreuzen ist, welche Tätigkeiten wir in der Lage sind zu verrichten. Zur – eingangs erwähnten – vorurteilsfreien Weltsicht gesellt ich für mein Verständnis ein beträchtlicher Teil Ehrlichkeit hinzu und so bleiben einfach mehr als die Hälfte der Kästchen unangekreuzt. “So klappt das hier nie” ist die höfliche, aber einzig hier zu veröffentliche Meinung Deiner Mutter zu eben diesem Umstand.

Na, ja – es ist ein toller Tag für Dich und am nächsten Morgen möchtest Du absolut verständlich wieder in den Wald. Nach ein paar Tagen ist das alles natürlich vergessen und wird erst wieder interessant als ich brieflich dazu aufgefordert werde, den beigefügten Betreuungsvertrag unterschrieben zurückzusenden.

Du bist also ernsthaft im Kleinkindüberlebenscamp aufgenommen. Und das bist Du jetzt auch noch ganz alleine selbst Schuld – denn Deine Eltern haben sich nun wirklich dumm genug angestellt. Demnächst gehen wir dann wohl mal etwas anders Klamotten für Dich einkaufen und Du suchst Dir vielleicht schonmal einen kleinen Kavalier dem Du die schweren Sachen in den Rucksack schummeln kannst.

Und nicht vergessen: “Ich war das nicht. Pionierehrenwort.”