Es hat noch nicht einmal zwei Jahre gedauert und das erste unumstößliche Dogma Deines Vaters ist wie das berühmte Kartenhaus zusammengebrochen: Dein Essen im Kindergarten. Im Zuge der Suche nach einem geeigneten Tagesaufenthalt für Dich habe ich kategorisch diejenigen Einrichtungen ausgeschlossen, in denen Mittags nicht frisch gekocht wird. Erfahrungen mit Mensa, Kantine und Co sollst Du alleine machen und zwar idealerweise zu einem Zeitpunkt wo Du selbstbestimmt mit leeren Tablett an der Kasse vorbeiziehst und die feilgebotenen Schnitzelsurrogate – die wahrscheinlich inoffizielle deutsche Leibspeise – verschmähst.
Selbstverständlich bist Du dennoch in einem Kindergarten mit Cateringservice – der neudeutsche Version der klassischen Kantine. Bis dato allerdings nur bis Mittags und ein fleißiges Familienmitglied erscheint pünktlich um zwölf Uhr mit Deinem Mittagessen meist aus großväterlicher Produktion. Dieses Prozedere birgt allerdings verschiedene Nachteile. Zum einen wird es Dir allmählich schwer vermittelbar, warum alle anderen Kinder – wir sind selbstverständlich die einzigen mit der Halbtagsvariante – zusammen am Mittagstisch sitzen und Du an eben dieser Tafel nicht Platz nehmen darfst und ferner schläfst Du grundsätzlich auf der anschließenden Rückfahrt im Auto ein. Zuhause bzw. bei Deinen mütterlichen Großeltern angekommen, also nach etwa zehn bis fünfzehn Minuten, musst Du folglich schlafend aus Deinem Autositz genommen werden und erwachst spätestens im Treppenhaus. Bis Du dann endlich in Deinem Bett angekommen, magst Du manchmal – wie wundersam – nicht direkt wieder einschlafen und es bedarf der üblichen Tricks. Eine funktionale Abhilfe ist es, Dich vom Kindergarten aus in Deinem Kinderwagen durch die Gegend zu schieben. Dieses Unterfangen scheitert allerdings an nicht wenigen Tagen auf Grund der mitteleuropäischen Großwetterlage. An dieser Stelle sei den Erfindern dieser Welt ein atmungsaktiver Regenschutz für solche Gefährte dringend ans Herz gelegt. Ich danke vorab und sichere eine mannigfache Abnahme zu.
Kurz und gut die Halbtagsbetreuung ist mehr als suboptimal und bedarf einer Korrektur. Ob nun Zufall oder nicht, jedenfalls trägt man uns seitens Deines Kindergartens in diesen Tagen die Option einer vollzeitlichen Betreuung anheim. Für Deine Mutter ist selbstverständlich sofort alles klar und ich wehre mich soviel es geht. Es geht allerdings nicht so gut, weil mir schlichtweg die Alternative fehlt. Die russische Familienseite – ohnehin mit dem Kindergarten wenig glücklich – rät zum sofortigen Betreuungsausstieg und bietet die Übernahme an. Deine Mutter und ich sind uns bekanntlich selten einig, in diesem Punkt finden wir aber beide die Kindergartenvariante überzeugender.
An die Stelle von Faina und Semen gerichtet möchte ich mich für das Angebot von ganzem Herzen bedanken, bitte aber ebenfalls um Verständnis, das wir in Kindergartenfragen schlicht und ergreifend anderer Meinung sind, was eben von nun an Deinen werktäglichen Aufenthalt in Unterrath bis etwa drei Uhr ausdehnt.
Du siehst Dich in der Folge dieser Entscheidung zwangsweise mit zwei Änderungen konfrontiert: Gegessen wird mit allen anderen Kindern zusammen und anschließend geschlafen ebenfalls in der Gute-Nacht-Höhle mit Deinen kleinkindlichen Mitstreitern des Kindergarten. Von einer Kreidetafel neben dem Eingang entnehme ich täglich das Mittagsangebot des Hauses und erreiche eine Trefferquote von annähernd einhundert Prozent ob Du etwas isst oder eben nicht. Beim Thema Einschlafen reizt Du Dein Prinzessinnen-Püppchen-Image bis an die Schmerzgrenze aus und so darf sich wahrscheinlich jede Deiner Betreuerinnen rühmen, Dich auf der Schulter liegen gehabt zu haben. Das beruhigt und amüsiert mich wiederum gleichermaßen.
Gefühlte Ewigkeiten vergehen bis sich auch bei Deinem Vater nach einer guten Woche die Einsicht breitmacht Deiner kleinkindlichen Seele keine irreparablen Schaden zuzufügen, nur weil Du mittags keine Hausmannskost mehr dargereicht bekommst. An dem ein oder anderen Tag probierst Du etwas, lehnst jedoch das Essen dann vollständig ab.
Dein Großvater hat aber hierfür stets vorgesorgt und Deinen Nachmittagsfrüchtebrei still und heimlich gegen sein Selbstgekochtes ausgetauscht. Das weiß ich natürlich überhaupt nicht, möchte mich an dieser Stelle aber einfach mal dafür bedanken.
Ich glaube, so ein klein bisschen jüdisch sind wir eben doch alle. Und das ist auch gut so.