Von Yerevan geht es rund 250 km nach Südosten in Richtung der Grenze zum Iran. Der Straßenzustand ist bestens und unser Auto – ein schwarzer Mercedes 124 der frühen 90er Jahre – bewältigt die Strecke in gut drei Stunden. Du läßt Dich mit der scheinbar schier unerschöpflichen Riege an Beschäftigungstricks Deiner Mutter bespaßen bevor Du nach der Hälfte der Strecke entschlummerst und pünktlich kurz vor Ankunft in Sisian wieder erwachst. Das paßt perfekt, denn nun magst Du auch nicht mehr in Deinem Kindersitz verweilen.
In Sisian müssen wir das Auto wechseln denn von nun an gibt es keine Straßen mehr und es bedarf eines geländegängigen Vehikels. Das finden wir in Form eines UAZ (Uljanowski Awtomobilny Sawod) der russischen Variante eines Ur-Jeep, gebaut irgendwo im Ural.
Sein Baujahr liegt noch weit in sowjetischer Zeit also ist das Auto bestens für seine Aufgabe gerüstet. Die besteht darin uns fast auf Gipfelhöhe zu bringen, wo in der Nähe eines kleinen Bergsees Felsmalereien aus der Zeit zwischen 8.000 – 3.000 v.d.Z. gefunden worden. Genau datiert sind sie noch nicht, das übernimmt ein deutsches Archäologenteam in einigen Monaten.
Keine Geringeren als der oberste Wildhüter Armeniens nebst seinem Kumpel werden uns kutschieren. Zu Beginn geht es noch recht zivil in Richtung Gipfel später wird es allerdings so holprig, daß ich ernsthafte Zweifel an dem ganzen Unterfangen hege, da ich mir Sorgen mache ob Du diese automobile Bergtour heil überstehst. Immerhin fahren wir gerade einen erloschenen Vulkan nach oben und da geht mitunter über reines Gestein und Geröll, was uns alle ordentlich durchschüttelt.
“Kein Problem” kommt in der Stimmlage des Obersten Sowjet von Seiten Deiner Mutter und ich muss zugeben Du wirkst nicht gerade unglücklich während des Gehoppel. Nach einigen Minuten müssen wir anhalten, da die Motortemperatur zu hoch steigt, übrigens die einzige Anzeige die im UAZ zu funktionieren scheint. Der Tacho hüpft ständig zwischen 0 und 100 km/h hin und her, wird aber ohnehin nicht benötigt: Wir schaukeln im Schritttempo voran. Sobald der Motor schweigt und die kleine Gipfelstürmertruppe still sitzt, blickst Du völlig irritiert umher. “Was ist denn nun los” interpretiere ich Deinen Geichtsausdruck, wieso stoppt das lustige Vehikel. “Eine Frechheit jetzt wo es gerade richtig Spaß macht” scheinst Du kommunizieren zu wollen. Unser Fahrer besticht Dich mit einer winzig kleinen Birne die Du wohlwollend in Empfang nimmst und offensichtlich als Entschuldigung in Erwägung ziehst. Sogleich beginnst Du mit Deinen mittlerweile fünf vorhandene Zähnen das Fruchtgewächs in Einzelteile zu zerlegen. An dieser Stelle sei erwähnt, wer einmal Früchte und Gemüse aus dem Kaukasus gegessen hat, dem erscheint die Qualität mitteleuropäischer Supermärkte geradezu lächerlich. Und genau das scheinst Du in den vergangenen Tagen auch schon bemerkt zu haben, denn Dein Appetit wächst von Tag zu Tag. Zwei Elternherzen sind dabei natürlich überglücklich. Aber zurück zur Schaukeltour.
Nach einer Viertelstunde geht es weiter und Du kletterst auf den mütterlichen Arm, freust Dich mittels zappelnder Ärmchen und Beinchen das wieder geschaukelt wird bevor Du mich wieder einmal vollends verblüffst: Du schläfst ein! Die kleinen Arme um den Hals Deiner Mutter gelegt, die Beine in ihre Hüften gebohrt scheint Dich rein gar nichts aus der Ruhe zu bringen. Der Triumph Deiner Mutter ist schier grenzenlos: “Ich habe ja gesagt, das ist kein Problem mit ihr – Sie ist schließlich meine Tochter” tönt es voller Selbstbewusstsein aus ihr heraus. Das ist mittlerweile einer meiner Lieblingssätze, aber ganz im Geheimen platze ich fast vor Stolz, als unsere Begleiter aus dem Staunen über das kleine Kind aus Deutschland nicht mehr herauskommen. Es ist zwar Deine typische Mittagsschafenszeit, aber das Du das in der jetzigen Situation stoisch erledigst habe ich nun wirklich nicht vermutet.
Nach rund zwei Stunden mitunter halsbrecherischer Aufwärtsfahrt sind wir am petrografischen Höhepunkt angekommen und stehen vor einer Ansammlung scheinbar hingewürfelter Felsstücke die teilweise mit kleinen Figuren verziert sind. Mit etwas Phantasie erkennt man einen Mann und eine Frau und ganz gewiss ein Wildschwein wie uns versichert wird.
Ich gebe zu mit dem Wissen, daß es sich hier um wahrscheinlich Jahrtausende alte Kunstwerke handelt – aus einer Zeit da Kunst als formgebende Ausdrucksform noch gar nicht als solche bekannt war – ist es schon beeindruckend hier zu stehen, aber – unter uns – mich faszinieren die umliegenden Bergmassive um ein Vielfaches mehr. Die Wolken werfen umherziehende Schatten auf ein Panorama das wahrhaft atemberaubend ist.
Du bist derweil auf eine Picknickdecke umgezogen und spielst mit Deinen Lieblingswürfelchen.
Und wer kann schon von sich behaupten einen Spielplatz mitten in den kaukasischen Bergen zu haben. Übrigens, wir sind auf 3.600 Meter ü. NN.