Selbstverständlich ist ein Meer was sich nie zu Ebbe zurückzieht – oder mediterran korrekt nicht merklich sichtbar – völlig uninteressant und demzufolge nicht weiter beachtenswert. Ganz genau so verhält es sich mit dem Mittelmeer in der Nähe von Narbonne im Süden Frankreichs. Das wiederum bedeutet keine frühmorgendlichen Emotionsausbrüche Deinerseits über fehlende Meeresbrandung. Wie ein demonstrativer Trostpreis überlässt Du uns dafür Deine neue freundliche Eigenheit: “Noch ein bisschen früher aufzustehen oder besser gesagt aufzukrabbeln – meist über Deine Mutter hinweg in meine Richtung um uns beide dann gegen halb sechs (in Worten fünfuhrdreissig) mit einem fröhlich frechem Grinsen zu wecken. “Ihr wolltet mich haben – jetzt kümmert Euch um mich.” interpretiere ich allmorgendlich Deinen Elternweckrhythmus.
Krabbeln ist per se Deine aktuell bevorzugte Fortbewegungsart und ich muss zugeben mir war bis dato nicht bewußt welche Geschwindigkeiten in der klassischen Vierfüßlerstellung zu erreichen sind. Beschränkt eine ausgebreitete Picknickdecke auf einer Wiese noch Deinen Aktionsradius – Rasen und Erdboden ist gegenwärtig noch zu geheimnisvolles Terrain – ist diese beruhigende Grenzziehung am Strand obsolet, da Sand Dein Element zu sein scheint und ferner Deine Krabbelgeschwindigkeit nochmal deutlich erhöht. Erblickst Du gar einen Hund oder manchmal ein anders Kind am Strand wird zunächst voll Freude der umliegende Sand in gekonnter Überkopf-Wurftechnik auf die dich bettende Decke befördert damit Du dann freie Bann hast und losspurten kannst.
Erlauben sich Deine Mutter oder ich gar die Unverfrorenheit uns einige Minuten mit anderen Dingen als mit Dir zu beschäftigen tritt mit gesetzmäßiger Folge beschriebener Fall ein und unser Kind ist weg. Mein einziger und letzter Versuch in den vergangenen zwei Monaten eine Zeitung zu lesen endet am hiesigen Strand mit einem hektischen Sprint in Richtung Wellen um Dich vor Erreichen der Wasserlinie abfangen zu können, nachdem ich noch Sekunden vorher überlegt habe, wie unverantwortlich es doch ist ein kleines Kind nur mit Windel bekleidet am Strand umherkrabbeln zu lassen. Farbig gekennzeichnete Pampers könnten hier lebensrettende Maßnahmen bilden. Ich beschließe daher Zeitungslesen auf die Liste der nicht elementar exponierten Maßnahmen zu setzten und unterlasse es fortan. Das Lesen die Dummheit gefährdet kompensieren wir damit das Deine Mutter bis zum heutigen Tag unseres Trips sechs Bücher gelesen hat und damit die Familienstatistik ausreichend versorgt. Manchmal – aber wirklich nur manchmal frage ich mich warum es hier 0:6 aus meiner Sicht steht. Aber das kann natürlich unmöglich mit Dir zusammen hängen.
Apropos 0:6: Zum aktuellen Zeitpunkt ist sozusagen Halbzeit bei der Europameisterschaft, die heutzutage ganz modern EURO 2012 heißt. Die Vorrunde ist vorbei, eine Deiner Identität stiftenden Nationen ist bereits auf dem Heimweg – natürlich diejenige die es ohnehin nicht so weit dorthin hat, die andere ist glorreicher Gruppensieger geworden und unser hübsches kleines Nachbarland mit der sympathischen Nationalfarbe hat mit null Punkten überhaupt nicht auf die Kette bekommen. Kurz gesagt: Wir stehen vorm Viertelfinale und alles ist gut. Deine Mutter kann endlich Aufatmen, da ich aufhöre um sechs Uhr abends den Fernseher einzuschalten und nur gemindert ansprechbar bin. Warum es für weibliche Stammhirne so unsagbar schwer zu verstehen ist, das es Situation gibt die einfach eine permanente TV-Präsens erfordern wird wohl auf ewig unbeantwortet bleiben.
Großmütig habe ich vor Beginn des Turniers verkündet selbstverständlich nicht jedes Spiel schauen zu müssen, habe diese Einschränkung aber natürlich ausschließlich auf die letzten Gruppenspiele gemünzt, da diese ohnehin zeitgleich verlaufen und man sich für eines entscheiden muss, will man nicht ständig hin und her schalten. Wieso schauen wir Ukraine gegen Schweden, ist jenes oder welches das Rückspiel, was passiert wenn die Unentschieden spielen? Solches Fragenwerk entfällt fortan, da ich Deiner Mutter einen übersichtliche Wandturnierkalender in unseren Campingbus gepinnt habe in den sie alle Ergebnisse eintragen kann. Meist genügt schon ein zwei bis dreimaliges völlig nebensächliches Erwähnen das da doch noch der ein oder andere Eintrag fehlt und schon zückt sie Schreiberling und beginnt ihr Werk.
Das K.O.-System der nächsten Tage vereinfacht das Prozedere. Zu den zweiten Gruppenspielen warst Du natürlich schon im Bett und ich mit Deiner Mutter und dem Fernsehfussball ganz alleine. Spannend ist es schon das Deine Mutter einen gefühlten Großteil Ihrer täglich zu verwertenden 5.000 Wörtern ausgerechnet auf die Zeit zwischen An- und Abpfiff platziert und allerlei weltbewegende Dinge zu besprechen hat.
Vor Freistößen ist grundsätzlich Salat zu waschen, bei Ecken der Einkaufsplan der nächsten Tage zu diskutieren und zu Nachspielzeiten kann man irgendetwas aufräumen, muss man aber eigentlich auch nicht.
Zum Halbfinale sind wir wieder in Düsseldorf und ich mit den Jungs verabredet. Das wissen die zwar noch nicht aber das ist mir jetzt egal. Ich liebe Deine Mutter aber eine Vorrunde reicht. Zum Finale versuchen wir das dann nochmal. Da sind wir nämlich zusammen in Zürich und ich stelle den Fernseher einfach lauter. Dort hast Du nämlich ein eigenes Zimmer und der deutsche Siegesgesang stört Dich dann nicht.