Der 129./ 77. Monat – Ungerechte Gerechtigkeit

Die letzten Tage der Frühlingsferien muss Eure Mutter zu einem Kongress irgendwo in der Nähe von Wien oder anderes ausgedrückt: gefühlt verkürzen sich für Euch die Ferien. Das ist neu, da ihr traditionell beide diese Art von „Wir fahren mit Mama zur Arbeit“ als unterhaltsam empfindet und stets begeistert fragt wo es hingeht. Diesmal nicht – und zwar überhaupt nicht.

Wir beschließen eine kleine Rundfahrt zu veranstalten die uns zunächst über die Lagune von Grado nach Triest und dann weiter via Budapest nach Wien führt. Der blanke Horror für Leo. Gefühlt nur Städte verheißen für Dich derzeit den unmissverständlichen Urlaubs-Super-Gau. Damit kannst Du überhaupt nichts anfangen, ganz im Gegensatz zu Deiner Schwester da hier Stadt mit Shopping gleichgesetzt wird. Ich frage bei Leo nach ob denn dann – auf Grund dieses Umstandes – die gefürchtet-gefühlte Verkürzung der Ferien nicht als positiv tendenziert wird? Allerdings ganz im Gegenteil, jetzt haben wir zwei Argumente warum das alles ganz fürchterlich ist: Stadt und zu kurz. Ich glaube wir haben ein Luxusproblem. Des lieben Frieden Willens vertauschen wir Lagune und Triest, was zwar streckenmäßig absoluter Blödsinn ist, aber somit reihen wir nicht Stadt an Stadt und Leo guckt wieder glücklich(er).

Die Hinfahrt gestaltet sich interessant, da wir weite Teile Österreichs in gehörigem Schneefall durchfahren und uns das 300 km vor der Adria am prognostizierten Sonnenschein am Golf von Triest zweifeln lassen. Stimmt aber trotzdem und bereits in Slowenien scheint dann auch wirklich die Sonne. Knurrig verlässt Leo unseren Camper auf dem Stellplatz mitten in der Stadt und trottet missbilligend hinter uns her. Ich vernehme dezente Kritik an der elterlichen Gewichtung der kindlichen Interessen. „Immer machen wir nur was sie will, …“ usw. ist noch die freundlichste Ausformulierung des neuzeitlichen Ungemach. Diese geschwisterliche Schuldzuweisung ob der Freizeitgestaltung ereignen sich derzeit bei Euch beiden kurioserweise, Leo ist wie immer nur minimal lauter. In Eurem Gedankenkonstrukt ist fortwährend der jeweils andere „Schuld“, was zwangsläufig zu dem
ein oder anderen Geschwisterzwist führt, der bedingungslos mit eruptiver Emotionalität ausgetragen wird. Weder Eurer Mutter noch mir lastet ihr die Ursächlichkeit am unaufhörlich völlig verkehrten Freizeitverhalten an. Das ist spannend für uns festzustellen macht es aber nicht einfacher dabei auch noch wirklich ernst zu bleiben und Eure Mutter stichelt natürlich gerne einmal leidenschaftlich wenn sie dem Eindruck erliegt einer von Euch suhlt sich gerade in seiner Opferrolle. Mit Opfern kann sie bekanntlich nicht, das hatten wir ja bereits an anderer Stelle. Das Euch genau das dann noch mehr auf die sprichwörtlich Palme bringt müssen wir wohl als Kollateralschaden akzeptieren.

Zurück zu Triest. Da ist dann doch alles gar nicht so schrecklich. Die ein oder andere Eisdiele wirkt da wahre Wunder. Und am Hafen angekommen lassen sich auch noch unzählige Quallen im Wasser bestaunen. Ihr entspinnt wahre Horrorgeschichten was passiert, wenn jemand ins Wasser fallen würde. Zwei vollständige Schokoladeneis-Zyklen erstreckt sich der maritime Albtraum. Das es sich hier um sogenannte Lungenquallen handelt, die völlig harmlos sind, erfahrt ihr erst jetzt in dieser Geschichte. Ich bitte mir das nachzusehen, Eure Gespinnste waren einfach zu schön.

Medusenfestival, April 2022, Triest, I

Mit qualligen Phantasiegeschichten geht es zurück zum Camper und hier haben sich Nachbarn mit fußballspielendem Jungen eingefunden und die Beschäftigung der nächsten Stunden ist geklärt. Und die vermeintliche Ursache für den ganzen ungerechten Triestbesuch – Sarah Sophie – musste auch nur einmal an einer Hauswand hochklettern um den Ball von fremden Balkonen zu befreien. Hierüber informierst Du Deinen neuen Freund mit absoluter Selbstverständlichkeit: „Das macht meine große Schwester. Die kann das. Die hilft mir immer!“ Ich bin schwer beeindruck. Es herrscht Eintracht unter den Reichmann-Kindern. Der Tag ist im Kalender zu vermerken.

Selten so vereint, April 2022, Triest, I

Am übernächsten Tag fahren wir nach Grado, zum einzig bereits geöffneten Campingplatz direkt an der Lagune und beschließen einige Tage zu bleiben, da ihr beide in Rekordzeit Anschluß gefunden habt und mit einer ganzen Gruppe Kinder täglich umherzieht. Und ein kleines Städtchen gibt es auch noch welches mit dem Fahrrad zu erreichen ist, also die andere Form von Glückseligkeit für alle.

Auch schon mit einem deutlich gemilderten Unwillen nimmt Leo die Widrigkeit der nächsten Etappe in Kauf. In Budapest treffen wir Freunde aus Düsseldorf die zufällig ebenfalls zur gleichen Zeit dort sind . Und mit vier Kindern ist so eine Stadt schon gar nicht mehr ganz so furchtbar. Selbst dann nicht, wenn man auch noch die größte Synagoge Europas besuchen muss, weil Babuschka schrecklich gerne ein Foto von Euch vor dem Baum des Lebens haben möchte. Artig erledigt, genauso wie der Besuch der Schuhe am Donauufer, ohne derer eine jüdische Familie wohl nicht die Stadt besuchen kann. Einen Moment fühlen sich Eure Mutter und ich sogar pädagogisch total korrekt. Das gibt sich allerdings wieder recht schnell, nachdem wir am kommenden Tag in Wien eintreffen, Eure Mutter auf den besagten Kongress schicken und wir einen ganzen Tag im Prater viel zu viele Fahrschäfte ausprobieren.

Am folgenden Morgen beim Frühstück im Hotel seit ihr jedenfalls beide nachhaltig empört, das der Arbeitseinsatz Eurer Mutter bereits passé ist und das Ende der Frühlingsferien nun wirklich unmittelbar bevorsteht.

Ihr seit Euch beide einig, zukünftig ausschließlich auf mehrtägige Arbeitseinsätze Eurer Mutter mitzukommen – sonst lohne sich das ja gar nicht.

War das zu Beginn der Ferien nicht noch komplett anders? Vielleicht habe ich das aber auch einfach nur falsch verstanden. Eltern machen ja ständig alles verkehrt. Aber macht Euch nichts draus: Das geht vorbei, das ist nur eine Phase. Ganz bestimmt.