Es ist das ganz große Drama. Im Parterre unseres Hauses ist Frau Schneider sel. A. vor einigen Wochen verstorben. Der Tod der alten Dame kommt zwar alles andere als überraschend, führt aber zumindest bei Leo zu einer pragmatischen Aussage: „Dann gibt es jetzt wohl unten keine Schokolade mehr.“ Höchstwahrscheinlich erstmal nicht! Pietätsmäßig haben wir noch einiges aufzuholen, wenngleich teleologisch nicht zu beanstanden. Die gute Frau hat Euch bei jeder sich bietenden Gelegenheit stets allerlei Süßigkeiten in die Hände gedrückt, worauf sich Eure Mutter berufen fühlte, diese Geste wiederum mit Selbstgebackenem zu kontern, was dann wiederum eine Kettenreaktion auslöste die wir irgendwann nicht mehr im Stande waren aufzubrechen. Sei es drum.
Die Wohnung ist natürlich perfekt für Euren väterlichen Opa, da sich das Projekt „Betreutes Wohnen“ in seinem Haus immer mehr als wenig praktikabel entpuppt. Er muss grundlos unbedingt in den Keller um auf dem Weg dorthin gepflegt die Treppe herunterzufallen, allerdings nicht bevor er eine Etage darüber seine Betreuerin in den nahenden Wahnsinn treibt, wenn er ihr zum zwanzigsten Mal am Tag die Hundeleine in die Hand drückt und sie zum Spaziergang mit dem Hund auffordert. Kurz gesagt, die Fluktuation der Damen nimmt genauso rapide zu wie meine Fahrerei zu ihm.
Das geht nicht mehr lange gut.
Allerdings sehen nur wir das so, Euer Opa ist der felsenfesten Überzeugung es sei alles in bester Ordnung. Und zwar unumstößlich! Als ich mir dann auch erdreiste das besagte Ableben der Schokoladenlieferantin aus dem Erdgeschoss mit seinem möglichen Umzug in Korrelation zu bringen hängt der Haussegen in der Provinz endgültig schief (Zur Erinnerung: Opa wohnt 50 km von uns entfernt in einem gefühlt menschenleeren Dorf kurz vor der holländischen Grenze). Ich mache es nun kurz um nicht von einer fröhlichen Kindergeschichte in ein Familiendrama abzuschweifen. Es geht hin- und her. Mal stimmt er zu, dann wieder nicht. Einmal verspricht er mit allerhöchstem Ehrenwort er zieht um, nur um am nächsten Tag alles wieder zu kassieren. Schließlich verfällt Eure Mutter in „Guter Polizist vs. Böser Polizist“. Und ich bin überrascht: Es funktioniert. Na, wer ist wohl wer bei uns beiden?
Nach einem Monat hat Opa es immer noch nicht eingesehen, willigt aber ein. In der Zwischenzeit habe ich die Wohnung unten gestrichen und soweit zum Einzug hergerichtet. Das bleibt Euch beiden natürlich nicht verborgen und ihr besucht mich während der Renovierungsarbeiten täglich. So eine 3-Zimmerwohnung ohne jegliche Möbel scheint ein wahres Kinderparadies darzustellen. Im Wohnzimmer entsteht auf dem Parkett eine „Socken-Eislaufbahn“, die im Schlafzimmer lagernden Gardinen der Wohnung werden zum Kostümfundus umdeklariert und geschirrlose Küchenbänke sind geradezu prädestiniert einen Kletterparcours abzubilden. In der Badewanne wollt ihr Fische züchten, was ich noch gerade so verhindern kann. Wenn das so weitergeht, brauchen wir noch eine Wohnung für Opa, denn die hier okkupiert ihr vollumfänglich. Leo erkundigt sich vorsorglich ob denn nicht ein Zimmer für Opa reicht, schließlich hast Du auch nur ein Zimmer für dich. Dann könnte Opa das hintere Zimmer bekommen und ihr nehmt die beiden Vorderen, womit die „Eislaufbahn“ Bestand hätte. Zur Untermauerung des Projekt „Spielwohnung“ schleppst Du täglich immer mehr Spielzeug von oben nach unten und verteilst es in den beiden besagten Zimmern. Sarah Sophie ist der felsenfesten Überzeugung Opa das schon irgendwie erklären zu können und wiegelt das leutselig ab: „Papa ich mach das schon. Mach dir da mal keine Sorgen.“ Ich erwäge es darauf ankommen zu lassen und gebe lediglich zu bedenken, wie es denn so war, als Opa krankheitsbedingt bei uns oben gewohnt hat und wie ein Gespenst durch Eure Zimmer geschlurft ist ohne auch nur einmal Notiz von Euch beiden zu nehmen. Aber auch darauf weiß Sarah Sophie die passende Lösung. Kurzerhand schnappst Du Dir meinen Zollstock und vermisst das hintere Zimmer. Wahrscheinlich rechnest Du aus wieviel Schritte so ein unrüstiger Rentner hier von Wand zu Wand vertippeln kann.
Ihr lasst Euch nicht von der Idee abbringen. Das passiert wundersam von ganz alleine. Wir sind gerade aus den Winterferien zurück, da eröffnet mir die Betreuerin, daß ihre Abreise unmittelbar bevorsteht. Nämlich am nächsten Tag. Vereinbart war zwar Ende des Monats, aber das ist vermutlich Auslegungssache. Ich schaffe es gerade noch jenes so viel diskutierte Zimmer fertig zu renovieren, packe den ganzen Malerkram zusammen und hole am nächsten Morgen Euren Opa aus seinem Haus ab. Der Umzug war natürlich ebenfalls erst zum Ende des Monats geplant und so steht er also in einer komplett leeren Wohnung, sieht man mal von Leos diversem Spielzeug ab. Mittels diverser Campingmöbel kann ich hier zumindest notdürftig zwei Stühle, einen Tisch und ein Klappbett bereitstellen.
Das steht natürlich auch alles im hinteren Zimmer, da unnützes Mobiliar auf „Eisbahnen“ nichts verloren hat, wie mir kinderseits eindrücklich vermittelt wird. Es ist Samstag Vormittags und für den Nachmittag ist die erste „Kinderspielwohnungsrunde“ anvisiert.
Es dauert ganze 20 Minuten, bis ihr beide einträchtig und mit zwei Taschen voller Spielzeug oben vor der Wohnungstür steht und kommentarlos alles in Euren Regalen verstaut.
Praktischerweise ist gerade Winter und Sarah Sophie schlägt vor auf eine richtige Eisbahn zu gehen, die „Socken-Version“ unten sei nämlich viel zu klein und Leo hat noch etwas von einem unverständlichen Gespenst auf der Eisbahn gemurmelt.
Wir lassen die Sache schmunzelnd auf sich beruhen, ich muss mir keine Gedanken mehr machen, wo wir die Betreuerin Eures Opas einquartieren und hole die Schlittschuhe.
Es heißt ja auch Mehrgenerationen-Haus und nicht -Wohnung.