Der 112./ 60. Monat – Schulschlamassel

Leo glänzt mit dem Umstand der späten Geburt, will heißen Du bist nach dem Stichtag 30. September eines Jahres geboren und kannst somit bereits mit fünf Jahren in die Schule, musst aber nicht. Für Deine Mutter steht dies, wenig überraschend, bereits seit Jahren fest, aber auch ich tendiere in letzter Zeit zu dieser Entscheidung, nicht zuletzt auf Grund des Umstandes, daß mir nach den Sommerferien Deine Kindergarten-Gruppenleiterin alle notwendigen Unterlagen für Deine Schulanmeldung in die Hand gedrückt hat, hübsch garniert mit den Worten: „Meldet ihn auf jeden Fall an, er dreht hier sonst durch!“ Die wahrscheinlich formkorrekte Übersetzung für „Leo muss hier raus.“ Das Ganze lassen wir uns von ihr nochmal in einem der üblichen Entwicklungsgespräche detailreich auseinanderlegen und ich vereinbare einen Termin in der gleichen Grundschule, die Sarah Sophie seit gut drei Jahren besucht.

Das ganze Spektakel ist reine Formsache, sowohl die Direktorin als auch die ebenfalls anwesende Klassenlehrerin Deiner Schwester bestätigen Deine Schultauglichkeit und alles scheint gut. Gäbe es da nicht diese kleine Einschränkung, eben wegen Deines Alters. Frau Schächter – die Direktorin – bemerkt zum Ende des Prozedere eine unwahrscheinliche, aber zu erwähnende Randnotiz: „Sollte es so kommen, daß die angepeilten drei ersten Klassen des künftigen Jahrgangs voll sind, würde für die sogenannten „Kann-Kinder“ keine weitere Klasse eröffnet, da dies die eindeutige Ansage des Schulträgers sei. Diese Kinder könnten ja weiterhin im Kindergarten bleiben.“ Zum allgemeinen Unverständnis: Sowohl Kindergarten als auch Schule befinden sie in Trägerschaft der jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

Mit Rücksicht auf jedwede – egal wie niedrig anzusetzende – Etikette schreibender Umgangsformen verzichte an dieser Stelle ausdrücklich auf Wiedergabe einzelner Wortlaute der Reaktion Eurer Mutter auf diese Fußnote des Anmeldegespräch. Kumulierend erwägt sie selbstverständlich den sofortigen Austritt aus der Gemeinde. Beruhigend auf Eure Mutter wirkt selbstverfreilich ebenfalls nicht mein Einwand, daß das doch ein wohl sehr theoretischer und utopischer Möglichkeitsfall sein dürfte. Hilft alles nix – wir leben in Tagen größtmöglicher mütterliche Unruhe, oder anders ausgedrückt: Es muss etwas passieren, und zwar schnell.

In einer Nachbarstadt findet sich eine private, bilinguale Schule deren Webpräsenz Eure Mutter geradezu in euphorische Ekstase versetzt. Bilingual ist das Zauberwort. Ich kann gar nicht so schnell schauen, wie sie dort einen Termin vereinbart; jedenfalls sitzen wir keine drei Tage später zusammen mit Leo dort zur Anmeldung. Auch hier verläuft die Überprüfung von Leos Schultauglichkeit analog zur letzten Schule und bereits vor dem Abendessen haben wir die Zusage per email. Während eben diesem vereinbaren Eure Mutter und ich der Aufnahme zuzustimmen um auf jeden Fall sicherstellen zu können, daß Du dich nicht genötigt siehst nach dem nächsten Sommer den Kindergarten abzureißen. Wir überweisen den Aufnahmebetrag und für Eure Mutter steht ab jetzt eigentlich alles fest – für mich ist das Plan B.

In den nächsten Wochen ploppt das Thema immer mal wieder auf, da da ja noch ein paar Kleinigkeiten zu beachten wären. Gehen wir mal – positiv denkend – davon aus, daß irgendwann dieses Corona-Virus nicht mehr unser aller Alltag bestimmt, führt das zwangsweise zu dem Umstand, Eure Mutter nicht mehr so häufig zu Hause zu haben oder anders ausgedrückt: Ich muss Euch alleine organisieren können. Eine Schule mit einen Anfahrtsweg von 30-40 Minuten plus der daraus resultierenden Rückfahrt meinerseits und das zweimal täglich sind ein Argument. Also zumindest für mich, Eure Mutter verhandelt derweil bereits mit einem örtlichen Taxiunternehmen.

Und dann setzt Leo noch einen drauf!

Du singst unaufhörlich. Laut, schief und ausnahmslos auf Hebräisch. Deine Mutter wittert selbstverständlich sofort religiöse Indoktrinierung seitens des Kindergarten. Schlagartig verliert die hiesige Schule an Boden. Bekanntlich ist Religion für Eure Mutter überhaupt kein Problem, solange sie nicht selbst in die Synagoge muss. Einen Tag später bekommt sie vom Kindergarten auch noch Leos künstlerische Ausarbeitungen der vergangenen jüdischen Feiertage überreicht und das Faß läuft sprichwörtlich über, als Leo uns allen fröhlich seine Bildwerke erklärt. Nahezu so dermaßen Festtags-korrekt, daß selbst Sarah Sophie kaum intervenieren kann. Jeder Rabbiner wäre sicherlich verzückt – Eure Mutter schaut lieber nochmal nach ob die laizistische Schule wirklich so weit weg ist.

Die endgültige Entscheidung auf welche Grundschule Du nun gehst, haben wir sicherheitshalber auf nächsten Februar vertagt, da bekommen wir nämlich Bescheid von der hiesigen Schule und das hilft dem Familienfrieden der kommenden Monate ungemein.

Schulschlamassel, November 2020, Düsseldorf, D

In der Zwischenzeit disputieren wir lieber darüber, auf welches Gymnasium Sarah Sophie ab dem nächsten Jahr geht, denn da sind wir uns ebenfalls uneingeschränkt uneinig. Manchmal fällt mir in diesen Tagen der Witz von dem gestrandeten Juden auf der einsamen Insel ein. Der wird nach seiner Rettung gefragt, warum er denn zwei Synagogen gebaut hat, wo er doch ganz alleine auf der Insel ist.

Der antwortet dann völlig entrüstet: „Die eine ist für mich. Die Zweite ist die, in die ich niemals gehen würde!“

Paßt irgendwie, oder?

Geschrieben in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland.