5. Monat – Was Frau Reichmann für eine hübsche Tochter hat

Ein Fest wiederholt sich alljährlich und kommt doch stets überraschend: Weihnachten und damit einhergehend eine Tradition die in nahezu jedem Betrieb Einzug gehalten hat: Weihnachtsfeiern. Meist wenig unterhaltsame Pflichtveranstaltungen, alkoholdurchtränkt und eben darum hin und wieder, obwohl traditionell eher unlustig, doch recht amüsant. Ich habe mit Deiner Mutter bereits eine solche Firmenveranstaltung ihrer schwäbischen Beratungsbude hinter uns gebracht, nämlich ein gutes halbes Jahr vor Deiner Geburt um die ebensolche feierlich bekannt zu geben. Jede Menge Händeschütteln und anerkennendes Schulterklopfen ist mir in guter Erinnerung. Und nun läßt sich Deine wundervolle Mutter eben überhaupt nicht ausreden Dich trophäengleich voll stolzer Inbrunst Live und in Farbe dem Kollegenkreis zu präsentieren. Es hilft nichts, wir müssen da hin.

Kulissen dieses Unternehmenskulturgeschichtlichen Großereignis ist die, in einem ehemaligen Schlösschen untergebrachte Betriebsstätte besagter Wir-erklären-die-Welt-neu-Aktiengesellschaft. Auf dem Rückweg einer weiteren Arbeitswoche beim Flugzeug-Klapptisch-Produzent trudeln wir standesgemäß verspätet zum zweiten Hauptgang ein und erleben Deine Mutter in Höchstform. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir nie aufgefallen, daß Dich Deine Mutter auf zwei verschiedene Arten trägt. Die eine – nennen wir es mal alltäglich – wiegt Dich in Ihren Armen, umschließt sanft das Köpfchen und demonstriert nach außen nur einen Aggregatzustand: Meins!

Die andere ist die „Was ich für eine hübsche Tochter habe“ Trageweise. Mittels dieser wirst Du, Kopf selbsttragend, in erhöhte Position mit Blick über die mütterliche Schulter gerichtet durch eine Armada an Kolleginnen und Kollegen balanciert. In solchen Fällen verfügt Deine Mutter über eine Art 360 Grad Rundumblick um auch ja nicht eine einzige anerkennende Geste zu verpassen. Nachdem die versammelte Geschäftsführung artig vorbei defiliert ist, brav salutiert hat und wir vom Buffet ein Tellerchen gepickt haben durfte Dich sogar irgendjemand fremdes höchstselbst auf den Arm heben. Ein seltener Anblick, ich gebe zu nicht ganz behaglich aber eben gerade noch erträglich. Im anschließenden Smalltalk bei parallelem Austausch des neusten Buschfunks gibt Deine Mutter die vollends Eloquente. Von Tisch zu Tisch huscht Sie um ja nichts zu verpassen. Während dieses Spektakels ruhst Du genüsslich auf meinem Arm und ich grinse wahrscheinlich nicht ein Jota weniger als Deine Mutter kurz zuvor beim Einmarsch der Triumviraten. Das ganze Prozedere geht von nun an noch eine Stunde die allerdings äußerst zügig verfliegt da Väter mit geschulterten Kleinstkindern eine Art kommunikative Sogwirkung entfalten und ich mich überhaupt nicht bewegen muß um neue Gesprächspartner aufzutun. Sie ziehen einfach so an mir vorbei, lassen hier und da ein Kompliment über Dich an mich ergehen und manch einer klopft mit auf die noch freie Schulter.

Kurz vor neun hat Dein Mutter ihre gewünschten Termine an entsprechenden Stellen eingenordet und wir verlassen familienkonform die Veranstaltung. Das Hotel liegt direkt um die Ecke und nachdem ich Mutter und Kind zu Bett gebracht habe genehmige ich mir noch einen Viertel Roten. Natürlich nehme ich den von der Bar mit auf unser Zimmer und stoße mit Deiner Mutter darauf an, daß es gar nicht so schade ist eine passende Ausrede zu haben das intraunternehmerische Weihnachtsfest frühzeitig zu verlassen. Währenddessen ist die Ausrede bereits an der mütterliche Brust während des Abendmals entschlummert.

Prost!

Geschrieben in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland.