Wie in jeder anderen Schule auch, herrschen die Verantwortlichen von Sarah Sophies Grundschule ebenfalls über verschiedene bewegliche Ferientage, deren Einsatz einem manchmal nicht so direkt einsichtig ist – zumindest mir. Als ich im vergangenen Jahr einen Brief mit den diversen Terminen der Schule in Händen hielt, habe ich diesen bereits kopfschüttelnd beiseite gelegt, aber in diesem Monat laufen die ersten von besagten Tagen bei uns auf und zwar um Karneval herum.
Die Jüdische Gemeinde zu Düsseldorf beteiligt sich im aktuellen Jahr erstmals mit einem eigenen Wagen am Rosenmontagszug und vermutet wahrscheinlich soviel Aufregung für die Mitglieder, daß sie ihren Grundschülern erstmal drei Tage frei gibt; möglicherweise um einer ordentlichen, brauchtumspflegenden Assimilation erst gar nicht im Wege zu stehen. Soviel rheinisch-jüdischem Weitblick hängt unsere Schule noch einen – ebenfalls schulfreien – Konzeptionstag am Aschermittwoch an und somit hat Sarah Sophie von Freitag bis einschließlich Mittwoch keinen Unterricht und wir somit viel Zeit. In wundersam unspektakulären Verhandlungen verschieben wir Sarah Sophies karnevalsübliche Verkleidungsorgien auf Purim ein paar Wochen später unter Zuhilfenahme des Wissen, daß Ihr dann einen ganzen Tag in der Schule alle verkleidet herumtobt und der Unterricht an diesem Tag ebenfalls ausfällt.
Oder anders ausgedrückt: Natürlich fahren wir weg und zwar nach Marseille. Da ist zwar kein Karneval aber dafür scheint schonmal die Sonne ein bisschen und es ist etwas wärmer. Donnerstag-Abend geht es los und am nächsten Morgen nach ein paar Stunden Schlaf in einem – sagen wir mal interessanten – Hotel bummeln wir durch die Altstadt von Orange kurz vor dem eigentlichen Ziel. Und da ist er das erste Mal – der Satz, der die nächsten Tage bestimmen soll: „Ich auch!“
Rein zufällig finden wir uns alle zusammen in einer Kinderboutique ein, in welcher Eure Mutter mal wieder allerlei Kleidchen, Mäntelchen und Mützchen an Euch ausprobiert und die dringlich benötigten Kleidungsstücke über den Kassentresen schiebt. Leo bemerkt das hier ein Ungleichgewicht in Richtung Schwester vorherrscht und fordert ebenfalls ein neues Hütchen für sich ein, indem er sich einen Sommerhut in zartem Rosa erst auf den Kopf und anschließend jovial neben die Kasse legt. Das „ch“ will noch nicht so richtig über Deine Lippen und so folgt auf der Tonspur zur Handlung ein „Iss auch!“
Weiter gehts nach Marseille. Die Schlüsselübergabe unserer Wohnung am alten Hafen gestaltet sich sehr „französisch“. Ans Telefon bekommen wir unseren Vermieter nicht, aber ein freundlicher Nachbar kennt die Telefonnummer seiner Frau und die Sache läuft. Jedenfalls sind wir gegen Mittag irgendwie angekommen.
Die traditionelle Ausflugsfahrt mit dem Boot zum Château d’If sparen wir uns angesichts einer schier endlosen Schlange am Ticketschalter und verschieben Euren Ausflug auf die literarische Gefängnisinsel auf spätere Jahre. Marseille gehört für Eure Mutter und mich zweifellos zu den Städten, in denen man immer mal wieder absichtlich strandet.
Aber eine Bouillabaisse darf – vor allem für Eure Mutter – natürlich nicht fehlen und so quetschen wir uns am nächsten Mittag in ein hübsches Fischrestaurant vor dem nicht ein freundlich-bestimmender Herr in einem Duzend Sprachen umherkobert und die Speisekarte anpreist.
Dafür nimmt sich der Patron persönlich Deiner an, da Sarah Sophie offenbar vergessen hat, daß sie die vergangenen Jahre durchaus Fisch in allerlei Variationen gegessen hat, aber eben jetzt überhaupt nicht, auf gar keinen Fall, niemals nie auch nur ein Grätentier zu sich nehmen im Stande ist. Ihr einigt Euch auf Spagetti Napoli und alles ist gut.
Wir beschließen für Leo keine gesonderte Portion zu bestellen und wissen bald, daß dies keine direkt gute Idee ist. Das Essen kommt und Leo möchte probieren: Und zwar gleichzeitig, jetzt und hier und vor allem sofort. Da gibt es nichts zu diskutieren und mein Steinbutt reduziert sich zusehends in gleichem Maße wie die Bouillabaisse Eurer Mutter. Leo hat Appetit und fordert die Verantwortlichkeit Eurer Eltern hierfür lautstark ein. Sobald wir Eltern die Gabel heben kommt der immergleiche Weckruf: „Iss auch!“ und Leo stopft sich die Backen voll. Und das meine ich wirklich wörtlich.
Ein aufmerksamer Patron fragt unauffällig, ob hier noch Nachholbedarf besteht, was ich situationsbedingt natürlich bejahe. Zum nächsten Gang meldet sich auch Deine Schwester mal wieder nachdem sie gemütlich in ihrer Pasta umhergedreht hat: „Ich auch!“ ertönt es von der Seite während ich Leo ein Stück gegrillten Fisch in den Mund bugsieren.
Machen wir es kurz: Dreimal Nachschlag, zwei Flaschen Rosé und von beiden Kinderseiten ein synchrones „Ich (Iss) auch!“ während mir die Dessertkarte ausgehändigt wird runden unser Mittagessen stilecht ab.
Zum Abendessen brate ich Leo Fischstäbchen und Sarah Sophie schnappt sich direkt das erste vorweg. „Ich auch!” bedeutet wohl, daß hier weiteres gefordert wird.
Fischstäbchen mochtest Du übrigens bis dato noch nie – aber bisher hat ja auch noch nie ein kleiner Bruder mir seiner Gabel vor Deinem Gesicht herumgefuchtelt. Bevor noch etwas passiert lege ich nach – und da kommt es auch schon von Euch beiden: „Iss auch!“
Abends, als ihr bereits schlaft, bereite ich das Essen für Eure Mutter und mich. Dem Entkorken einer Flasche folgt sogleich ein wohlbekannte Satz: „Ich auch!“
Helau alle Zusammen aus Südfrankreich.