Es klingelt das Telefon und ich höre immer den gleichen Satz: „Hier ist die Yitzhak-Rabin-Schule. Sarah Sophie hat Bauchschmerzen und möchte abgeholt werden.“ So, oder so ähnlich geschieht es in diesem Monat mindestens einmal pro Woche. Mal sind es Bauchschmerzen, dann tut der Kopf weh oder Dir ist einfach nur schlecht. Das kann sicherlich mal einfach so sein, aber es häuft sich ordentlich. Nicht selten kommt so ein Anruf mehrfach die Woche.
Wir haben ein Problem. Nur wie sich das lösen lässt ist mir derzeit schleierhaft. Diverse Arztbesuche ergeben stets das gleiche Bild verbunden mit der Kinderarzt-Aussage die wahrscheinlich alle Eltern viel zu oft hören und so ziemlich gar nichts aussagt: „Wir müssen das beobachten!“ Diese Beobachtung verläuft dann in etwas so: Ich danke der verehrten Kundschaft für ihr fulminantes Verständnis während ich meine Tasche packe und mache mich, wie man so schön sagt, „vom Acker“. Dann trudel ich in Deiner Schule ein um Dich meist auf dem Sofa in Eurer Klasse in Empfang zu nehmen. Jawohl in Deinem Klassenraum steht wahrhaftig ein Sofa, damit die kränkelnde Schülerschaft nicht auf ihren Stühlen hocken muss. Eigentlich ganz sinnvoll, sieht aber irgendwie ulkig aus. Deine Klassenlehrerin, Frau Winterbach, informiert mich kurz über den Verlauf und dann trage ich Dich für gewöhnlich zum Auto. Sind wir zuhause, wird es manchmal besser, nicht selten rufe ich aber am folgenden Morgen Deine Schule und den Schulbusfahrer an um dich für den jeweiligen Tag zu entschuldigen.
Mir schwand übles. Absichtliches Vortäuschen körperlicher Gebrechen um dem Schulbesuch zu entgehen traue ich Dir aber nicht wirklich zu und Deine Verlautbarungen klingen auch durchaus glaubhaft. Doch was ist zu tun? Wenn Du nicht einen riesigen Berg nachzuholender Seiten in Umi-Fibel und Co anhäufen und ich meine Kundschaft nicht in Mitbewerber-Hände treiben möchte braucht es eine Lösung – und zwar zeitig. Zum Thema Bauchweh schleppt Dich Eure Mutter zum Ernährungsguru Nummer eins, der sich unter anderem dafür verantwortlich zeichnet, daß Eure Mutter einen derart individuellen Speiseplan befolgt, daß sogar ich überrascht bin, was es so alles für spannende Produkte zu kaufen gibt.
Der diagnostiziert nach einem vollständigen Stoffwechselscreening allerdings lediglich eine leichte Lactose-Intoleranz und gibt aus Speisezettel-Sicht grünes Licht. In der nächsten Woche hast Du Rückenschmerzen und wir fahren von der Schule direkt zum Kinderarzt. Der wiederum diagnostiziert eine sogenannte „Blockade“, welche sich aber mit osteopathischer Behandlung beheben lässt. Unpraktischerweise hat die dazugehörige Fachfrau erst in sechs Wochen einen Termin frei und ich telefoniere mit Eurer Mutter um Alternativen zu erörtern. Die wiederum erklärt ihren Kunden nun wiederum, daß es an der Zeit ist sich gerade mal zwei Stunden alleine zu beschäftigen und hängt sich ans Telefon.
Am Nachmittag kommt die Info, daß Du um 17 Uhr einen Termin bei Svetlana hast, die sei zwar keine Ärztin sondern Physiotherapeutin, genieße aber das volle Vertrauen Eurer Mutter – die sie überhaupt nicht kennt – denn ihre Kenntnisse seien sehr fundiert und überhaupt hat sie schon vielen Bekannten von Bekannten geholfen. Diese doch gewiss mehr als beruhigende Aussage, gepaart mit dem pragmatischen Lösungsansatz: „Es gibt heute noch einen Termin!“ überzeugen mich selbstverständlich in größtmöglichen Umfang.
Svetlana ist Anfang/ Mitte fünfzig und schließt Dich vollends in Ihr Herz und an die Sprossenwand. Nach einer Viertelstunde wird mir eine seitliche Verkrümmung Deiner Wirbelsäule, eine sogenannte Skoliose, diagnostiziert und weitere zehn Minuten später bin ich über die klinischen Möglichkeiten hierzu vollends informiert. Die hierfür in Frage kommenden Fachklinik zur endgültigen Diagnose und dem darauf folgenden Behandlungsplan liegt in einer thüringischen Kurstadt 350km entfernt und zwei Wochen später hast Du dort einen Termin.
In der Zwischenzeit vernehme ich noch zwei oder dreimal den vertrauten Satz „Hier ist die Yitzhak-Rabin-Schule, usw.“ und verbringe den Tag mit Dir zuhause. Optimale Sportarten sind hier übrigens Klettern, Reiten und Schwimmen. Klettern gehst Du ohnehin jeden Mittwoch, im Schwimmbad sind wir regelmäßig und das Thema Reiten, hast Du jetzt mit Deiner so ganz eigenen Art charmant besetzt:
„Papa, wenn das jetzt so gut für meinen Rücken ist, dann bekomme ich doch ein eigenes Pferd, oder? Das ist doch jetzt wichtig!“ Wir verhandeln zunächst einen regelmäßigen Besuch Deiner geliebten Ponyfarm und das Thema ist erstmal vom Tisch. Bemerkenswert finde ich die Schlussfolgerung aber allemal.
Die thüringische Medizinalfahrt absolvierst Du mit Eurer Mutter um dort zu erfahren, daß es eben doch keine Skoliose ist sondern Du über einen unzureichenden Muskelaufbau verfügst, dem mittels gymnastischer Sportaktivität aber beizukommen ist. Wie das allerdings nach drei Jahren Waldkindergarten und Deinem ausgeprägten Bewegungsdrang überhaupt sein kann wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Ein paar Tage zuvor, wurde ich übrigens auf dem Schulhof von einer burschikosen Dame angesprochen, die mir eröffnet Sarah Sophie müsse unbedingt in ihren Gymnastikkurs am Montag-Nachmittag nach der Schule angemeldet werden. Auf meine Nachfragen, warum, weshalb, wieso blickt mich die Dame irritiert an, zeigt auf Dich und antwortet kopfschüttelnd „Ja, sehen sie denn nicht, daß Gymnastik für sie perfekt ist – so sportlich wie sie ist. Schicken sie sie zu mir! Bis nächsten Montag, 15:45 Uhr hier in der Turnhalle.“ Das nenne ich aktive Kundengewinnung und fühle mich etwas überfahren.
Über dieses Gespräch informiere ich Eure Mutter wiederum auf der Rückfahrt von der thüringischen Klinik und sie schafft es doch tatsächlich innerhalb der vierstündigen Rückfahrt besagte Dame ans Telefon zu bekommen. Was auf dieses Telefonat folgt bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung. Am kommenden Montag sind wir folglich zum Schnupper-Turnen bei Ludmilla, die sowohl von Alter als auch Tonfall her bereits sowjetische Kunstturner zu Olympiareife gepeitscht haben dürfte. Aber ich muss zugeben, das Ganze sieht recht effektiv aus und scheint für unser Problem perfekt geeignet. Sarah Sophie braucht noch einen zweiten Anlauf um sich mit Schwester Rabiater zu arrangieren, aber dann ist alles gut und wir sind überraschend auch noch Mitglied in einem jüdischen Sportverein.
Ja, und zwischendurch hat mich auch mal jemand anderes angerufen – klang aber ähnlich: „Hier ist der Kücken und Co.-Kindergarten. Der Leo fühlt sich nicht gut und möchte abgeholt werden.“
Aber jetzt gebt schon zu, ihr habt Euch abgesprochen – die Anrufe kommen nie zeitgleich. Ist auch praktischer; wer braucht denn schon zusätzlich noch ein kränkelndes Geschwisterchen zuhause. Neuerdings tauche ich übrigens Dienstags mit Leo hier zum Eltern-/ Kind-Turnen auf. Vielleicht nur prophylaktisch, aber ich fühle mich irgendwie vorgewarnt. Und da ist die große Schwester natürlich in der ersten Reihe ebenfalls mit dabei.
Angerufen hat mich seither übrigens keiner mehr. Die Sache scheint zu laufen.