Der 122./ 70. Monat – Frohes neues Schach

In den kommenden beiden Monaten stehen wieder sämtliche hohen jüdischen Feiertage an. Was konkret bedeutet: Leo hat ganz viel schulfrei, Sarah Sophie erstmalig nicht, was nicht so direkt in grenzenlose Begeisterung bei Dir ausartet. Du findest das natürlich unfair, doof und das sind noch die höflichen Vokabeln für diesen Umstand. Das ist nun nicht zu ändern und ich hatte ja versprochen auf der städtischen Gymnasialwahl nicht weiter herumzureiten.

Daher zurück zur Grundschule. Wenig überraschend lebt sich Leo in Rekordgeschwindigkeit in seiner Klasse ein und begegnet allem Neuen mit wahrhaftigem Interesse. Deutsch und Mathe findest Du nett, aber deine wahre Liebe gilt Hebräisch und Religion, was zumindest in der ersten Klasse an unserer Schule gefühlt das gleiche ist. Eure Mutter ist der festen Überzeugung, daß diese Leidenschaft ursächlich mit Deiner Lehrerin zu tun hat. Meine Intervention „Leo ist fünf!“ wiegelt sie natürlich grinsend ab und haut mir lediglich sanft um die Ohren: „Wieso, Du findest sie doch auch attraktiv.“ Das habe ich natürlich nie gesagt, gebe aber zu, daß mir die zierliche Israelin durchaus sympathisch ist vor allem aber deswegen, daß sie aus ihrer streng orthodoxen Haltung keinerlei Hehl macht, aber nicht erwartet diese zu teilen.

Wie dem auch sei, Leo findet sie „ganz schön toll.“ und präsentiert täglich stolz was er alles Neues auf Hebräisch und in Religion gelernt hat. Das nehme ich mit liberaler Gelassenheit zur Kenntnis; für Eure Mutter wackelt allerdings schon die laizistische Gesellschaftsordnung bedrohlich. Zuviel Religion erweckt zwangsweise distanzierende Reflexe bei ihr. Nicht hingegen bei Dir und das Ganze läuft einfach so mit.

Aber Du währest ja nicht Du, wenn das nicht irgendwann wie von Zauberhand wieder aufploppen sollte.

Doch der Reihe nach. Neben dem schulischen Interesse gilt es derzeit noch eine andere Begeisterung zu bedienen: Schach! Und zwar von morgens bis abends. Auf der selbstorganisierten Klassenfahrt vor den Sommerferien hat Dir Aaron – ein Mitschüler deiner Schwester – nebenbei die Schachregeln erklärt und es hat „Klick“ gemacht. Jede freie Minute schleppst Du das Schachbrett an und forderst mich heraus. Anfangs muss ich mich natürlich nicht so wahnwitzig anstrengen, aber in kurzer Zeit spielst Du immer anspruchsvoller. Das Prozedere nimmt die üblichen wahnhaften Züge an und wir spielen nicht selten gerne mal 20 – 30 Partien pro Tag.

Schach: abends das Letzte, morgens das Erste, September 2021, Leukermeer, NL

Deiner Mutter bleibt das natürlich nicht unverborgen und kurzum steht fest: „Das muss gefördert werden!“ Der geeignete Verein ist schnell gefunden und wir melden Dich mal wieder bei Maccabi an, diesmal in der Abteilung Schach. Passend findet das Training – es handelt sich ja angeblich um einen Sport – im direkten Anschluss an den Schulunterricht im gleichen Gebäude statt. Nach der ersten Stunde wird Pavel – Dein Schachtrainer – bedingungslos durch Deine Mutter interviewt. Der originale Wortlaut dieses Telefonates wird mir in einer knappen Textnachricht übermittelt:

Trainer: „Ich dachte, er wäre in der 3. Klasse und spielt wie aus der 5.“
Deine Mutter: „Nein, er ist in der 1. und spielt seit 3 Monaten.“
Darauf wieder der Trainer: „Das habe ich noch nie erlebt. Schachklub ist zu wenig. Er braucht Extra-Förderung, dann spielt er bald Turniere.“

Um wieviel Zentimeter Deine Mutter gerade gewachsen ist, ist leider nicht überliefert, aber es dürften einige sein. Zumindest haben sich die Schachmarathons der letzten Wochen gelohnt. Sobald Du dich für irgendetwas ernsthaft interessierst nimmt es sehr schnell irrational-absurde Formen an. Das wird uns bestimmt noch das ein oder andere Mal erwischen.

Denn dann waren da ja noch die Feiertage. Rosch haSchana beschert uns in diesem Jahr ein extra langes Wochenende, sprich Montag, Dienstag und Mittwoch sind schulfrei. Leo hat sich derweil überlegt, wer frei hat kann auch wegfahren. Das findet natürlich meine volle Unterstützung und wir beschließen einen zünftigen Jungs-Ausflug nach Holland aufs Boot, nachdem Sarah Sophie und deine Mutter das lange Wochenende leider bereits Sonntags beenden müssen.

In der Schule werdet ihr selbstredend entsprechend auf das jüdische Neujahrsfest vorbereitet und Freitags steigst Du voller Stolz aus dem Schulbus und präsentierst mir die mitgebrachten Utensilien. Wir haben eine selbst gebastelte Shofar die nicht funktioniert aber trotzdem mit muss, nebst genügend Äpfeln und Honig. Fröhlich singend starten wir gen Wochenende auf dem Wasser. Dort angekommen lässt Du Dir nochmals versichern daß „unsere“ Feierlichkeiten wirklich erst am Montag starten und wir auch sicher bis Mittwoch bleiben. Das Wochenende verläuft nicht besonders spektakulär, das Wetter ist für Anfang September traumhaft und es sind genügend Eurer Freunde zugegen. Das ändert sich natürlich schlagartig zum Sonntag Nachmittag hin, da völlig überraschend wenige Kinder von Marina und Campingplatz jüdische Schulen besuchen und somit morgen nicht schulfrei haben. Eine „bodenlose Frechheit“, wie Du bemerkst, wo Du doch extra nur auf Grund von Rosch haSchana hierher gekommen bist und jetzt hockst Du mit mir alleine da. Am nächsten Morgen haben wir zunächst das Schwimmbad fast für uns alleine und erst nach und nach trudeln dann doch ein paar Eltern mit ihren nicht schulpflichtigen Kindern ein.

Und da ist das zuvor bereits beschriebene Aufploppen von Zauberhand wieder. Egal wer es hören möchte oder auch nicht, innerhalb von zehn Minuten weiß das gesamte Schwimmbad erstens das Rosch haSchana ist, zweitens was Rosch haSchana ist und drittens, warum wir hier feiern. Letzteres habe ich persönlich zwar nicht so ganz verstanden, aber das liegt wahrscheinlich daran, daß ja nur Du die letzten Tage zur Schule gegangen bist. Flugs bildet sich eine kleine Gruppe um uns herum während Du fleißig die vergangenen 5782 Jahre seit Entstehung der Welt im Schnelldurchlauf zum Besten gibst. Gut, da werden dann zwar immer mal wieder ein paar Tausend Jahre ausgelassen, aber das geht bei der Zuhörerschaft als geschichtlicher Kollateralschaden durch. Jedenfalls bist Du derart bedingungslos begeistert in deinem Element das jeder Rabbiner seine wahre Freude daran haben dürfte.

Jedenfalls werden wohl nicht viele Väter, im Schwimmbad stehend, gefragt werden: „Entschuldigen Sie vielmals, aber ich dachte im Judentum wird nicht missioniert. Das hört sich bei ihrem Sohn ganz anders an.“ Das ist dann aber eindeutig zu viel für Dich und du beantwortest die Frage lieber direkt selbst: „Bis heute nicht – aber jetzt haben die ja mich.“

Damit ist dann auch schon die aktuelle Stunde „Jüdisch für Anfänger“ beendet und wir haben einige fragende Gesichter zurückgelassen.

Unter der Dusche erkundigst Du dich dann noch kurz: „Papa, was ist denn dieses missionieren?“

Doch das kannst Du ja gar nicht wissen, schließlich wird im Judentum ja eben nicht missioniert. Was die Leute auch immer für komische Fragen stellen.

Shana tova!

Geschrieben in Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland.

Der 121./ 69. Monat – Rechtsrheinischer Linksverkehr

In Düsseldorf ist die jeweilige Rheinseite sehr wichtig, das weiß jeder der hier lebt. In unserem Fall heißt das konkret: Die eine Grundschulzeit endet und die andere fängt an. Leo startet seine Schulzeit und Sarah Sophie wechselt auf das Gymnasium. Wie üblich liegen und lagen Eure Mutter und ich mal wieder mental meilenweit auseinander was die Wahl der Schulen angeht, insbesondere des passenden Gymnasiums. Irgendwann bedurfte es jedoch schließlich Fakten und so musste jeder von uns Eltern Federn lassen, was dazu führt, das Sarah Sophie zukünftig den bilingualen Zweig des Cecilien-Gymnasium auf der anderen Rheinseite besucht und wir mit Leo bei Sarah Sophies ehemaliger Grundschullehrerin sozusagen wieder von vorne anfangen, d.h. Yitzhak-Rabin-Schule 2.0.

Soweit so gut. Leider starten auch „Einschulungen“ in weiterführende Schulen erst einen Tag später nach den Sommerferien, was bedeutet, daß wir uns aufteilen müssen und Sarah Sophie nimmt uns einfach die Entscheidung ab, wer mit wem zu welcher Einschulungsfeier geht. Zitat: „Mama will ja das Cecilien, dann muss sie auch dahin!“ Durchaus schlüssig und mir merkt man meine Skepsis gegenüber städtischen Schulen auch fast nicht mehr an – also folglich logisch.

Eine spezielle Situation begleitet uns übrigens fortan für die nächsten Jahre: Eine der besten Freundinnen von Sarah Sophie aus der Grundschule ist nicht nur mit ihrer Familie bei uns „ums Eck“ eingezogen, sondern wartet auch noch mit dem speziellen Umstand auf, ebenfalls zwei Kinder in der genau gleichen Konstellation wie wir zu haben. Als Sahnehäubchen geht ihr dann noch in die gleichen Schulen. Also Mia und Sarah Sophie auf die linksrheinisch-wohlstandsverseuchte Elitärbildungseinrichtung und Levi mit Leo auf unsere vertraute Kuschelgrundschule mit Rundum-Pamperservice wie Schulbus, Security und Polizeibewachung weil Davidstern im Logo. Die ausufernden Debatten mit Eurer Mutter warum nicht Sarah Sophie einfach auf das jüdische Gymnasium wechselt – unter Erhaltung des bekannten Pamperus Quo – erwähne ich hier nur der Vollständigkeit halber und gelobe nicht weiter drauf herumzureiten und auch in Zukunft nur in unregelmäßigen Abständen bei eventuell aufkommenden Missständen seitens der städtischen Großraumklasse gegebenenfalls auf den ein oder anderen Vergleich zur möglichen Privatschulalternative der Gemeinde hinzuweisen. Es ist wie es ist und so sitzen die Jungs ab sofort in Schulbus und Klasse nebeneinander, während einer von uns Eltern die Mädchen morgens über den Rhein kutschiert und nachmittags von Mias Mutter wieder zurück gefahren werden. Dies der Vollständigkeit halber.

Schulstart 2.0, August 2021, Düsseldorf, D

Ja, und der neue Schulalltag bei Euch beiden geht dann einfach los und wir dürfen auch sogleich erleben wie das eben so ist als Jungs-Eltern die erste Klasse besuchen zu lassen. Überraschend dauert es auch doch eine ganze Woche bis der erste Eintrag ins Hausaufgabenheft erfolgt: Mit offenbar vorsätzlich-brachialem Zerstörungswillen hast Du ein wohl behütetes Mitschulmädchen während eines Spiels auf dem Pausenhof zu Boden gerungen, daß dem daraus resultierenden Tränenfluss neben der erwähnten Notiz auch noch ein mehrmaliges, telefonisches Krisenmanagement mit der dazugehörigen Mutter zur Folge hat. Eure Mutter ist begeistert aktiver Mittelpunkt dieser Kommunikation sein zu dürfen und für ihre Verhältnisse sogar ordentlich diplomatisch. Leo und die optional nachhaltig geschädigte junge Dame werden instruiert sich am kommenden Schultag über das schockierende Ereignis zu besprechen und wir glauben doch tatsächlich damit sei die Sache vom Tisch.

Das Gesprächsangebot scheitert leider an mangelnder Bereitschaft der jungen Dame und wird natürlich – wiederum fernmündlich – seitens der Mutter aufgegriffen. Eure Mutter steht kurz vorm Kollaps und versteht allmählich nicht mehr wirklich um was es hier eigentlich geht. Der nächste Schritt ist die – seitens der gegnerischen Partei – eingeforderte Entschuldigung von Dir, die Du zwar laut eigener Aussage bereits abgeleistet hast, aber des lieben Friedens willen am kommenden Tag wiederholst. Klappt aber auch nicht, die Prinzessin ist immer noch bockig. Weder Leo noch Eure Mutter verstehen – Stand jetzt – überhaupt irgendetwas an der Gesamtsituation. Also folgt Eskalationsstufe 3. Erneutes abendliches Gespräch unter ungleichen Müttern am Telefon. Unter Beibringung bezeugter Aussagen einer aufgetauchten Freundin wird der Tathergang neu beleuchtet. Die Niederträchtigkeit meines Sohnes scheint keine Grenzen zu kennen. Folglich erwägen wir, den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag die Sachlage prüfen zu lassen und durchdenken entsprechenden anwaltlichen Beistand. In verzweifelten Situationen sollte man zum Äußersten greifen und ich informiere Eure Mutter über die elaborierte Herkunft der entsprechende Familie:

Natürlich „Meerbusch“! Jenes wundersame Dorf links vom Rhein vor den Toren Düsseldorfs welches wahrscheinlich nur erschaffen wurde um distinguierten, unter Selbstverwirklichunsbefindlichkeit leidenden Müttern in Vollzeit eine Heimat zu bieten.

Schlagartig ändert sich für Eure Mutter die empathische Großwetterlage und sie rät Dir eindringlich jedwede weitere Kommunikation mit der linksrheinischen Problemprinzessin zu unterlassen. Die hat sich im übrigen in der Zwischenzeit daran erinnert, offenbar doch nicht so ganz unbeteiligt an der ganzen Geschichte zu sein und lässt mittels mütterlicher Textnachricht eine Art Burgfrieden in Aussicht stellen. Vier Tage sinnlosester Kommunikation zwischen zwei Rheinseiten haben schlagartig ein Ende.

Ich habe ja immer gesagt Düsseldorf links- und rechtsrheinisch geht nicht zusammen und dabei habe ich noch nicht einmal erwähnt, daß die Stadt Düsseldorf seit mehreren Wochen versucht zu ergründen warum die neugebaute Mensa in Sarah Sophies – linksrheinischem – Gymnasium unter Wasser steht und somit völlig nutzlos ist.

Aber ich habe ja versprochen nicht drauf herumzureiten.

Geschrieben in Neustift im Stubaital, Tirol, Österreich.

Der 120./ 68. Monat – Doppelter Sommer

Die Planung der Sommerferien ist irgendwie daneben geraten. Da ich ähnliche Corona-bedingte Reisebeschränkungen wie im vergangenen Sommer vermutet habe, erschien ein erneuter Sommer in Holland am Leukermeer sinnvoll. Die Begeisterung Eurer Mutter muss ich wohl nicht gesondert erwähnen. Ihren Höhepunkt erreicht sie selbstverständlich nachdem klar wird, daß ein „normaler“ Strandurlaub irgendwo in Europa im Juli durchaus möglich ist. Zu dem Zeitpunkt haben wir aber bereits sechs Wochen bei den üblichen Verdächtigen in Holland gebucht und bezahlt. „Nur Holland“ wenn nix anderes geht, geht gerade noch, aber eben „Nur Holland“ wenn alles andere geht, geht eben gar nicht.

„Ich weiß, daß das ein bisschen überflüssig ist.“ argumentiert Eure Mutter, was ich mit „aber eben nur ein bisschen“ kontere und selbstverständlich sitzt ihr irgendwann im überflüssigen Flieger zum überflüssigen All-Inclusive-Urlaub in der Türkei.

„Überflüssig“ ist eben relativ, Juli 2021, Antalya, TR

Ich halte derweil die Stellung in Holland, damit das dort nicht ebenfalls völlig überflüssig ist. Und das ist für unsere Verhältnisse schon ziemlich unüberflüssig.

Geschrieben in Neustift im Stubaital, Tirol, Österreich.