Der 84./ 32. Monat – Gan Israel

Die Sommerferien stehen an. Selbst Berufsvagabunden wie uns fällt es schwer die gesamten sechs Wochen Schulferien unterwegs zu sein, das sprengt definitiv Budget und Kundenverständnis meinerseits. Unser Sommerurlaub ist in diesem Jahr auf ganze drei Wochen im August geplant, womit in Konsequenz die ersten drei Ferienwochen Sarah Sophie tagsüber eine Beschäftigung braucht. Leos Kindergarten hat seine Betriebsferien bereits hinter sich; er ist somit „versorgt“ und Sarah Sophie entscheidet sich für das zweiwöchige Sommercamp der Gemeinde und geht in der dritten Woche ein paar Tage in Ihrem ehemaligen Waldkindergarten einfach mit.

Sarah Sophies erstes Sommercamp, Juli 2018, Düsseldorf, D
Sarah Sophies erstes Sommercamp, Juli 2018, Düsseldorf, D

Das führt zu dem skurrilen Umstand, daß Sarah Sophie, Leo und ich unter der Woche zunächst den Kindergarten ansteuern um Leo in seine Pusteblumen-Gruppe zu entlassen und dann zu Sarah Sophies Schule fahren, da dort der allmorgendliche Treffpunkt nebst gemeinsamen Frühstück ist. Es gibt zwei Sommercamps: das von unserer Gemeinde in der zweiten Ferienhälfte und jenes der orthodoxen Chabad Lubavitch, welches die ersten beiden Ferienwochen übernimmt und somit das für Dich in Frage kommende ist.

Ja, ich gebe zu nach der Anmeldung einen Anflug von minimaler Skepsis nicht gänzlich beiseite schieben zu können, da mir das eigene Verständnis für „der rechten Lehre angehörend“ – nichts anderes bedeutet bekanntlich orthodox – eher fehlt und ich verhindern möchte das Du religiös überfrachtet wirst, denn ich bin der festen Überzeugung Religion sollte auch Spaß machen und vor allem eigeninteressenhaft erfahren werden.

Nach der Anmeldung passiert erst einmal wochenlang überhaupt nichts, aber schon nach zweimaliger Nachfrage werden die ersten Infos per eMail gereicht. Jetzt weiß ich zumindest wann wir wo hin müssen. Das Programm folgt ein paar Tage später und zerstreut meine Befürchtungen fürs erste schonmal. Abenteuerspielplatz, Klettergarten und einiges mehr klingen nun nicht so direkt nach heilsgewisser Hirnwäsche. Ich bin beruhigter.

Am ersten Ferientag bringe ich Dich also zur Schule, erkundige mich zu welcher Gruppe Du gehörst, deponiere die gewünschten Ersatzklamotten an der entsprechenden Stelle und begehe erfolgreich den ersten Fauxpas: Ich reiche den beiden Madrichot – man besteht hier auf der hebräischen Bezeichnung – Deiner Truppe die Hand zur Begrüßung. Volltreffer – aber eben voll daneben. Für die erste der jungen Damen stellt das kein Problem dar, aber Nummer zwei starrt mich entsetzt an, beginnt sich hektisch zu entschuldigen und sitzt gefühlt auf Ihren Händen. Blitzschnell schießt mir die Geschichte vernunftwidrig, verspäteter EL AL-Maschinen durch den Kopf, die gerne mal eineinhalb Stunden am Boden bleiben, weil sich der ein oder andere brave Charedim stur weigert neben einer Frau Platz zu nehmen. In meinem Fall sozusagen nur mit umgedrehten Geschlechtervorzeichen. Ich versichere daß die nicht erfolgte Handreichung für mich gewiss kein Problem darstellt, sondern im Gegenteil, es mich besonders freut anstelle ihrer Hand, meine Tochter in ihre vertrauensvolle Hände zu legen. Puh – gerade noch die Kurve gekriegt und hat auch niemand bemerkt – glaube ich. Zur Erklärung muss ich hier vielleicht kurz anmerken, daß Handreichungen zwischen Männern und Frauen bereits durch höchste rabbinische Autoritäten nicht explizit verboten sind wie ich mich vorher extra kundig gemacht habe, aber vielleicht möchte die junge Dame es besonders gut machen oder der Rabbiner ihrer Gemeinde hat zufällig etwas anderes erzählt. Wir haben das Problem auf jeden Fall erfolgreich umschifft.

Ansonsten bist Du vom Camp restlos begeistert was womöglich damit zusammenhängt, das hier Deine halbe Klasse ebenfalls angemeldet ist. Nachhaltig beeindruckt hat mich Euer Besuch auf dem Abenteuerspielplatz. Zur dortigen Abholung musst Du zunächst Deinem Unmut genügend Ausdruck darüber verleihen, daß ich es vergessen habe Dir einen Badeanzug mitzugeben. Deiner Meinung nach hat man als „so großer Erwachsener“ schließlich zu wissen, daß auf Abenteuerspielplätzen überdimensionale Planschbecken zu finden sind. Während ich über mein schändliches Verhalten nachdenke, trage ich Deine verteilten, pitschnassen Klamotten zusammen, denn der nicht vorhanden Badeanzug hat Dich offensichtlich nicht davon abgehalten in besagtes Planschbecken zu steigen. Doch zurück zu meinem erstaunten Eindruck. Ich finde es verständlich sehr gut, wenn Kinder frisch bekocht werden, habe aber auf einem Spielplatz nicht unmittelbar damit gerechnet Bierzeltgarnituren, einen riesigen Gastrogrill nebst zwei entsprechend dimensionierter Kompressorkühlboxen vorzufinden die vom Koch gerade in seinen Kleinlaster verladen werden. Hier nimmt man es wohl sehr genau und ich bin schwer beeindruckt. Ich frage bei Dir nach, ob das alles zu Euch gehört und bekomme nur die lapidare Antwort: „Ach das ist nur vom Mittagessen.“ „Aber natürlich!“ erwidere ich zustimmend. Noch spannender erscheint mir allerdings Dein Nachsatz mit verschränkten Armen: „Wir essen hier doch koscher!“ Was das nun wiederum mit dem imposanten Equipment zu tun hat bleibt im Dunklen. Da muss ich noch einen drauf setzen: „Habt ihr heute Mittag Fleisch gegessen?“ frage ich nach. „Ja, warum“ kommt von Dir retour. Wieder ich: „Vor dem Spielplatz steht ein Eiswagen, aber ich weiß nicht ob Du jetzt schon milchig essen darfst.“ Darauf wieder Du: „Ja, ja Papa das geht schon. Außerdem nehme ich Erdbeereis. Zur Sicherheit.“

Wir sind also mal wieder ein ganz klein bisschen jüdischer geworden. Masel tov!

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 83./ 31. Monat – Sommersonderurlaub

Leos Kindergarten legt seine sommerlichen Betriebsferien stets vor die Schulferien, was sicherlich diejenigen Eltern freuen dürfte, die keine weiteren schulpflichtigen Kinder zuhause haben, da sie dann natürlich nicht zwingend in der Hauptsaison in den Urlaub fahren müssen. Für alle anderen – somit auch uns – bedeutet das schlicht zwei Wochen mehr Organisation und weniger Zeit um zu arbeiten. Wir beschließen die Zeit aufzuteilen: die erste Woche geht an Eure Mutter, die zweite an mich. Der Umstand, daß Eure Mutter – wenn sie arbeitet – zwangsweise praktisch nie zu Hause ist, ich aber arbeiten kann während Sarah Sophie in der Schule weilt, ist die familieninterne Übersetzung für „Leo macht Ferien“ und das selbstverständlich nicht zu Hause. Ich meine etwas wie „Wenn ich mir schon Urlaub nehmen muss, bleibe ich doch nicht zuhause!“ seitens Eurer Mutter zu vernehmen. Natürlich nicht, das habe ich auch nicht erwartet. Kurz- und gut: Leo, Eure Mutter, Ihre Freundin Viktoria und deren Sohn Lev – der nur ein Jahr älter als Leo ist – fliegen Mitte Juni nach Thessaloniki und von dort mit dem Auto weiter nach Chalkidiki um sich am Toronäischen Golf schonmal Sommerwind um die Nasen wehen zu lassen. Sarah Sophie gefällt das ganze verständlicherweise eher weniger und Du findest es schlicht „Unfair!!! Leo darf an den Strand und ich muss zur Schule.“ Einzig die Aussicht mal wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit meinerseits einfordern zu können lässt Dich an einen Samstag in fröhlichem Gemütszustand Mutter und Bruder zum Flughafen verabschieden und uns Verbliebene in Richtung Zoo dirigieren. Deine Begeisterung für Ivo, Peppina und Co – die Delphine des Duisburger Delphinarium – ist seit Jahren ungebrochen und alle paar Monate müssen wir da hin, da führt kein Weg dran vorbei. Ich kann den Text der Vorführungen mittlerweile übrigens fehlerfrei mitsprechen.

In den nächsten Tagen trudeln immer wieder von griechischer Seite die erwarteten Photos ein: Strand, Restaurant und Spielplatz. Schlecht scheint es Euch nicht zu gehen.

Leo in Chalkidiki
Leo auf „Sonderurlaub“, Juni 2018, Nähe Nikiti, Chalkidiki, GR

Sarah Sophie moniert den einseitigen Ausflug der halben Familie bereits am zweiten Tag nicht mehr und wir beide stellen fest wie ruhig es auf einmal zuhause ist. Ruhig und vor allem derart unangestrengt, daß ich mich an die Zeit mit nur einem Kind zurück erinnert fühle – nur das Du eben mittlerweile fast sieben Jahre alt bist und solch vernachlässigbare Luxusgüter wie nächtelanges Durchschlafen in diesen Tagen selbstverständlich sind. Wir beide genießen sichtlich die Zeit und es ist einfach auch mal ganz schön, wenn ein kleiner Bruder beim abendlichen Vorlesen nicht ständig die Seiten hin- und herblättert. Da in diesen Tagen die Fußball-WM beginnt und Du erstaunliches Interesse daran zeigst, hebeln wir kurzerhand einige sonst übliche Regeln außer Kraft und ausnahmsweise rollt auch beim Essen der Ball über die Leinwand. Durch das grandiose Ausscheiden der Deutschen Mannschaft in der Vorrunde des Turniers sind diese genehmigten Regelverstöße aber natürlich wieder flott vom Tisch. So hat das Gurkengekicke auch sein Gutes. Zu übernimmst kurioserweise ohne jedwedes Hinterfragen meine Einstellung beim Thema Fußball: Deutschland ist raus, WM vorbei, Thema durch! In zwei Jahren ist EM.

Die Woche verfliegt sprichwörtlich und Samstagabend sind Leo und Eure Mutter, pünktlich zum ersten Sommerfest Deiner Schule am Sonntag, wieder zuhause. Das verläuft unspektakulär mit vielen würdevollen Reden, Schulchor, solch derart ausgefallenen Spielen wie „Limbotanz“ und der „Reise nach Jerusalem“, was noch eine der originelleren Ideen ist, vor allem an einer jüdischen Schule. Solche Veranstaltungen scheinen Generationen ideenlos zu überdauern. Aber gehören halt dazu.

In der nächsten Woche fährst Du zur üblichen Zeit zur Schule und ab dann haben Leo und ich auf einmal ganz viel Zeit. Der Jahrhundertsommer in Mitteleuropa lässt eigentlich nur eine Wahl der Freizeitbeschäftigung zu: Strand und Wasser. Da ich Freibädern nur bedingte Begeisterung abringen kann fahren wir zum Unterbacher See, da ich hier irrtümlich annehme vielleicht noch andere Altersgenossen von Dir anzutreffen. So überfüllt das einzige Strandbad Düsseldorfs am Wochenende auch ist, unter der Woche kann man den Strand auch gerne mal ganz für sich alleine haben. Das fällt einem schwer zu glauben, ist aber wirklich so. Wenn dann gegen Mittag die ersten Omas und Opas mit den potentiellen Spielkameraden eintreffen denkst Du Dir wahrscheinlich, „Wer erst so spät hier auftaucht, den brauche ich auch nicht mehr.“ Jedenfalls bewegt sich Dein Interesse an anderen Kindern bei ausgeprägten 0,0%. Macht aber nix, entscheidest Du – es gibt ja mich. So turnen wir gefühlt, ganz in unserem eigenen kleinen Universum gefangen, stundenlang im Wasser umher bevor Du beinahe täglich pünktlich um 12Uhr Dein Mittagessen einforderst: „Papa, ahm, ahm!“ Und da brauche ich Dir auch nicht mit Paprika, Äpfeln oder sonstigem zu kommen, was ich in unserem Picknickkörbchen dabei habe. Es wird losspaziert und unmissverständlich in Richtung Imbissbude gedeutet die sich hinter der Liegewiese befindet. Vielleicht hätte ich nicht direkt am ersten Tag hier mit Dir einfallen sollen. Wahrscheinlich eher mein Fehler. Aber schließlich haben wir beide ja auch Ferien und das muss jetzt hier als legitimierender Unschuldsbeweis einfach mal herhalten. Und Appetit hast Du hier wohl wahrlich ordentlich. Für gewöhnlich nimmst Du eine Portion Chicken Nuggets vorneweg um dann die ein oder andere Falafel von mir zu mopsen. Und ein klein bisschen pädagogisch korrekt war ich auch: Pommes frites gab es wirklich nicht jeden Tag. Höchstens mal wenn auch eine Fanta im Spiel war.

Nächstes Jahr hat Dein Kindergarten wieder vor den Sommerferien geschlossen – aber da machen wir das alles ganz anders. Bestimmt!

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 82./ 30. Monat – Mission Miktion

Das Schulministerium NRW hat für dieses Jahr einen ganze Woche Pfingstferien verordnet. Dieser seit knapp 50 Jahren einmalige Umstand rührt aus den „günstig“ gelegenen Feiertagen des gesamten aktuellen Schuljahres her. Fallen diese in Schulferien bzw. z.B. Weihnachts-/ Neujahrstage auf reguläre Wochentage müssen sie sozusagen hinten angehangen werden. Das muss man erstmal wissen als relative Neulinge im Schulkindbereich.

Jedenfalls sind mit den beiden anhängenden Wochenenden neun ganze Tage frei und das bedeutet bei uns praktisch per Definition: Klamotten zusammenpacken und ab.

In diesen Tagen haben wir uns vor allem einer anstehenden Notwendigkeit gewidmet: Leos Windelei – oder besser gesagt der Entsagung von dergleichen zumindest tagsüber. Aus eigener Erfahrung wissen wir, daß sich Campingplätze für derlei Projekte ideal eignen. Insbesondere diese mit Hundeerlaubnis, da hier ständig jemand mit kleinen Tütchen zum Mülleimer rennt. Oder anders ausgedrückt: Hier ist die Toleranzschwelle für absichtslos Abgegangenes hoch genug um das Thema entspannt anzugehen. Bei Sarah Sophie war das in einem zweiwöchigen Sommerurlaub seinerzeit komplett erfolgreich erledigt – ich weiß aber um den Umstand, daß Jungs hier durchaus etwas träger reagieren, jedoch ein sprichwörtlicher Grundstein sollte in über einer Woche doch zu legen sein. Soweit die Theorie.

In der Praxis sammeln wir Leo im Kindergarten ein, holen Sarah Sophie Freitagmittag direkt von der Schule ab und starten Richtung Sérignan in Südfrankreich. Vor solch einem langen Wochenende sind wir erwartungsgemäß nicht die einzigen unterwegs – aber fünf Stunden habe ich bis dato noch nie bis Luxemburg und zwei weitere Stunden hindurch gebraucht. Ab Metz ist das Stop-and-Go dann endlich erledigt und die gesammelte Familienlaune immer noch erstaunlich gut. OK, ich gebe zu, das Sitzverhalten von Euch beiden im Stau war nicht zu jeder Zeit vollständig mit der deutschen Straßenverkehrsordnung in Einklang zu bringen, aber wir waren ja auch viel im angrenzenden Herzogtum unterwegs. Im Familienrat erfolgte Ausrede und standesgemäß ordentlich jüdisch seitens Mutter und Kinder aus-, geh-, und verhandelt. Als Tipp für verkehrsstockend, verordnungsflexible Eltern: Auch damit bekommt man schon so manche Staustunde rum. Irgendwann um vier Uhr Nachts sind wir endlich da und ich komme sogar noch zu Ankunftsbier und drei Stunden Schlaf. Alles ist gut.

Nach dem Stau ist vor dem Strand, Mai 2018, Nähe Metz, F
Nach dem Stau ist vor dem Strand, Mai 2018, Nähe Metz, F

Am nächsten Morgen scheint die Sonne und wir campieren unmittelbar am Meer. Seit einiger Zeit hat sich Leo angewöhnt, seine Windel einfach mal selbst auszuziehen und artig in den Abfallbehälter zu werfen. Dies ist mit ein Grund warum wir der Meinung sind, es ist einfach an der Zeit. So auch aktuell. Deine Schwester wird nicht müde Dir immer wieder hingebungsvoll zu erklären, was nun zu tun ist, wenn ein Bedürfnis ansteht. Dazu muss man allerdings dasselbige erstmal als solches erkennen – und zwar bevor es zu unabänderlichen Folgen führt. Und daran hapert es derzeit gehörig. In den kommenden Tagen gibt es so ziemlich keinen Ort an dem ich nicht Verständnis einfordernd umher blicke und hinter Dir herwische, aufnehme oder dezent beiseite schiebe.

Sehr sympathisch ist der freundliche Herr aus dem kleinen Supermarkt, der gemütvoll auf den Eimer und Wischmob hinter dem Vorhang verweist und dabei so wunderbar weitherzig lächeln kann, daß ich ein weiteres Mal in der Überzeugung bestärkt werde, Frankreich ist einfach kinderfreundlicher als sein östlicher Nachbar. Es fällt mir schwer eine vergleichbare Szene ohne bestürzt-belehrende und garantiert genüg entrüstet beisammen stehende Korrektbürger – von denen mindestens die Hälfte wahrscheinlich gar keine eigenen Kinder hat – in einen heimischen Supermarkt zu übertragen. Das ist aber nur eine Vermutung, da ich zugebe während ortsansässiger Einkäufe, bei Dir bisher eher nicht ohne Hose unterwegs gewesen zu sein.

Der Hinweis auf den Vorhang erfolgt im Übrigen von nun an täglich – pro aktiv – seitens des freundlichen Herrn, was uns beide stets zum schmunzeln bringt. Zur Ehrenrettung meines Sohnes möchte ich vermerken, daß wir den Supermarkt-Wischmob nur ein einziges Mal gebraucht haben, dafür dann aber auch mit Kehrblech. Was Du machst, machst Du formvollendet – da gibt es nix.

Vom Hund der Nachbarschaft dürftest Du Dir wahrscheinlich abgeguckt haben, welcher Ort zu gegebener Zeit aufzusuchen ist. Jedenfalls wanderst Du nach ein paar Tagen in Richtung Gebüsch um Dich stolz vor das Gehölz zu positionieren und dem zwingendsten aller Bedürfnisse zu entsprechen. Soweit sind wir also bereits. Nicht zu vergessen ist Deine ausgesprochene Dankbarkeit dem Hund gegenüber, der für seinen uneigennützigen, vorbildlichen Charakter mit einem Lolli belohnt wird den Du abwechselnd ihm und Dir in den Mund, respektive Maul steckst. Es sind eben die kleinen Gesten die im Leben zählen.

Einen Tag vor der Rückfahrt erreichen wir dann doch noch das anvisierte Minimalziel und Du verkündest Bedürfnis, gefolgt von unmittelbar erfolgreichem Eintreffen an der entsprechenden Örtlichkeit, nebst Verrichtung. Selbstverständlich verwirklicht sich das Geschehene nicht ohne eine gebührende Belobigung seitens Deiner Schwester, die sich postwendend in – eines Zirkusdirektor würdigen Mentalität – emporschwingt und das Erlebte kommentiert.

So jetzt habe ich eine ganze Geschichte zur Miktion formuliert ohne einmal das Wort „Pipi“ zu verwenden. Das kann ich mir für später aufheben, da es mittlerweile August ist während ich dies schreibe und sich das Projekt immer noch im Prozess befindet.

Ja, es stimmt: Jungs brauchen einfach länger!

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 81./ 29. Monat – Alltag im April

Seit zwei Monaten können Eure Großeltern, aus keinem freudigen Grund, leider nicht mehr an der Kinderbetreuung partizipieren. Eure mütterliche Großmutter muss sich mehreren Chemotherapien im Krankenhaus unterziehen und ist in der Folge sehr geschwächt. Das hat zwar in einer fröhlichen Kindergeschichte nichts zu suchen, gehört aber nunmal derzeit zu unserem Leben dazu. Wir machen das Beste daraus und der Dienstag hat sich – soweit möglich – als Besuchstag etabliert. Das führt zwangsläufig zu dem Umstand, daß ich zuhause bin, wenn Sarah Sophie aus der Schule kommt und Eure Nachmittags-Bespassung alleine übernehme. Neuerdings stelle ich mir einen Wecker wenn ich bei einem Kunden vor Ort arbeite um pünktlich zuhause zu sein. Auch eine interessante Erfahrung, funktioniert aber soweit ganz gut.

Morgens nachdem der Schulbus Sarah Sophie abgeholt hat, fahren Leo und ich euren mütterlichen Großvater ins Krankenhaus zu seiner Frau. Das Krankenhaus liegt praktischerweise in der Nähe von Deinem Kindergarten. Da wir Eure Großeltern in Oma und Opa (väterlich) sowie Babuschka und Dedoschka (mütterlich, da schlicht und einfach die russische Bezeichnung für Oma und Opa) unterteilt haben, hat Leo diesen Umstand pragmatisch in einen Satz gepackt: „Baba aua! Opa nein!“ Du kommst da manchmal mit den Sprachen noch etwas durcheinander. Steigen wir morgens ins Auto kommt als erstes die Info vom Rücksitz: „Baba aua! Opa nein!“ Dabei legst du den Kopf etwas beiseite und nickst mit theatralisch hinnehmenden Geste.“ Das ganze wiederholt sich, wenn Dedoschka ins Auto steigt, was zwangsweise zur allgemeinen Erheiterung beiträgt. Und zwei Wochen später wird aus „Opa“ dann auch „Deda“, was vor allem denselben freut. Zum Ritual gehören noch die lustigen Tierkekse, die „Deda“ allmorgendlich mitbringt und Leo sofort ein freudiges Grinsen auf die breiten Backen zaubert. Sind dann auch noch genügend „I-As“ in der Tüte juckeln wir fröhlich futternd los. Ich glaube ja, das Euer Großvater hier heimlich vorsortiert. Wenn ich die gleiche Sorte im russischen Supermarkt kaufe, sind da wesentlich weniger Esel im Sortiment. Außerdem scheinen die Kekse von mir auch bei weitem nicht so gut zu schmecken. Na ja, man kann nicht alles haben. Wir haben uns aktuell übrigens ebenfalls damit arrangiert, daß Du morgens praktisch nichts mehr ißt. Wozu auch wenn es Picknick im Auto gibt. Wie war das nochmal, beim zweiten Kind ist man entspannter. Das hätte ich bei Sarah Sophie in dem Alter niemals mitgemacht.

Ansonsten verläuft der aktuelle Monat ungewöhnlich unaufgeregt für unsere Verhältnisse. Wahrscheinlich hängt das mit dem Umstand zusammen, daß wir in diesen Wochen erstaunlich immobil sind und häufig einfach mal zuhause hocken. Leo entdeckt noch das Tanzen für sich. In Deinem Kindergarten finde ich eines Tages einen Werbeflyer der Tatzentanz-Truppe und denke mir, das passt für Dich. Der Kurs Deiner Altersgruppe findet Samstags statt und somit ist klar, wer da tänzelnd mit Dir die umherschwingt. Das lässt sich natürlich Eure Mutter nicht nehmen. Du bist im Übrigen hier der einzige Junge. Tanzen scheint wohl so ein Mutter-Tochter-Ding zu sein. Das stört Dich aber nicht wirklich. Zum ersten Termin tauchen wir da noch in gesammelter Familienstärke auf, Sarah Sophie wird das „Babyhopsen“ wie sie es nennt, verständlicherweise recht zügig zu fad und die nächsten Termine sind somit für Eure Mutter und Leo reserviert. Die beiden sind jedenfalls nicht zu bremsen und wedeln mit bunten Tüchern zu Schubidubidu umher. Leo bringt das Erlernte auch artig mit nach Hause und schwoft beinahe täglich mindestens einmal durch Eure Zimmer. Als praktisch gestaltet sich da, daß Du verstanden hast wie der schwesterliche CD-Player in Gang zu bringen ist.

Hast Du genug getanzt, wird gerne mal die große Schwester beklettert, sich auf ihrem Rücken positioniert und munter durch die ganze Wohnung „geritten“. Das ganze habt ihr „Copa Copa“ getauft, keiner weiß warum und macht euch beiden offenbar einen Riesenspaß. Jedenfalls könnt ihr damit ganze Nachmittage verbringen und neuerdings wird Leo bereits im Auto auf den Rücken geschultert und zur Haustüre getragen. Wenn es nach Euch ginge müsste Leo auch nicht eigenständig im Treppenhaus die Stiegen erklimmen, aber das ist mir dann doch zu gefährlich und wir haben hier einen Verzicht ausgehandelt.

Dieser Monat steht also ganz im Zeichen Eurer Interaktion untereinander und da kommt Euch natürlich der Umstand zu Gute, daß Leo sich nun doch endlich mal bequemt zaghaft sprechen zu wollen. Ins Bett gehen wir nicht mehr ohne das „Mäh“, einem kleinen abgenutzten Holzbär; Durst avisieren wir mit „Pis, Pis“ und alles was groß ist und über vier Beine verfügt ist ein „La“. Mit „Langsam und mühselig ernährt sich das Eichhörnchen“ beschreibt sich Deine Sprachentwicklung wohl ganz trefflich, aber immerhin passiert überhaupt etwas in dieser Richtung.

Zum Ende des Monats müssen wir dann doch nochmal raus. Da der 1. Mai auf einen Dienstag fällt, Sarah Sophie Montags schulfrei ausgestattet ist wollen wir das lange Wochenende nach Holland zu Sarah Sophies heiß geliebtem Kletterturm fahren. Das überlegen wir uns dann am Freitagmittag kurzfristig anders, da irgendwie das Wetter in Berlin wesentlich besser vorhergesagt ist und juckeln kurzfristig lieber gen Osten. Da warten dann neben Angelina – was schon alleine bei Euch beiden wahre Begeisterungsstürme auslöst – auch noch vier Hunde auf Euch und Leo wähnt sich wieder unter zwei großen Schwestern.

Leo und seine "beiden" großen Schwestern, April 2018, Berlin, D
Leo und seine „beiden“ großen Schwestern, April 2018, Berlin, D

Es kommt also endlich wieder Leben in die Bude – und das wird auch langsam Zeit. Sonst gewöhnt ihr Euch noch an zuhause und wer will das schon?

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 80./ 28. Monat – Noch ne’ Schwester

Die Frühlingsferien stehen an und wir beschließen in mehren Etappen gemütlich gen Nizza zu fahren um uns dort mit Freunden aus Berlin zu treffen. Zunächst nach Straßburg ins Vaisseau, einem spannendem Wissenschaftsmuseum für Kinder und von dort weiter nach Avignon. Hier folgt der obligatorische Besuch des Papstpalastes, wobei Sarah Sophie wahrscheinlich eher von der – zugegeben eindrucksvollen – multimedialen Präsentation des hiesigen Weltkulturerbe als dem Bauwerk als solchem begeistert ist. Jedenfalls rennst Du mit umgehängten iPad durch die Gewölbe und bekommst auf diesem photorealistische Darstellungen der historischen, prunkvollen Räume angezeigt, wenn Du die nackten, kahlen Wände photographierst. Ich hoffe das Kind und Gerät diverse Stolperfallen halbwegs unbeschadet überstehen. Pfiffig finde ich diese Idee der geschichtlichen Wissensvermittlung allemal und linse Dir des Öfteren über die Schulter.

Nach Genug an Papst- und Gegenpapsttum gehen wir essen und der folgende Stadtbummel wird völlig überraschend zur Shoppingtour der Damen umfunktioniert. Was für eine unvorhersehbare Überraschung. Ich rate an dieser Stelle modisch unaffinen Zeitgenossen dringend vom Besuch französischer Fußgängerzonen ab. Die alternative Umschreibung für: Ich hoffe Leo wird bald wach, damit wir das sich anbahnende Ensemble an Boutiquetüten in seinem Kinderwagen abtransportieren können. Mutter und Tochter in ihrem Element. Ich bin fasziniert wie selbstverständlich eine Sechsjährige mit mehreren Outfits in Umkleidekabinen verschwindet und geschwind umgestylt wieder herauskommt. Das sind Gene, da kann man nichts machen; davon bin ich ab sofort überzeugt und gebe jede Gegenwehr auf. Versprochen!

Ohne französische Boutiquen geht es einfach nicht, März 2018, Avignon, F
Ohne französische Boutiquen geht es einfach nicht, März 2018, Avignon, F

Meine Lieblingsgeschichte zu diesem Thema haben wir übrigens ein paar Tage später in Nizza erlebt: Leo und ich haben uns – Croissant-essend – in eine Bar verkrümelt, während die Damen in der benachbarten Kinderboutique zugange sind. Nach einer halben Stunde schauen wir nebenan mal kurz nach dem Rechten und vernehmen hinter einem Kleiderständer eine rigide, mütterliche Aussage: „Nein, das Kleid kaufen wir auf gar keinen Fall. Das ist viel zu teuer, …“ u.s.w. Ich glaube auch noch ein „Genau so eins hast Du schon im Schrank hängen.“ zu vernehmen während Leo und ich wieder die Bar ansteuern. Pastis beruhigt, da bin ich mir sicher. Jedenfalls spaziert Sarah Sophie eine weitere halbe Stunde mit genau diesem Kleid aus dem Laden gefolgt von Eurer Mutter mit dem Satz: „Ich will nichts dazu hören.“ Muss sie auch nicht, ich kann genussvoll genug grinsen, das reicht.

Doch zurück nach Avignon. Hier ist Leo mittlerweile erwacht und ab sofort schiebe ich bunte Tragetaschen durch die Stadt. Wir dürften für die nächsten Sommer eingedeckt sein.

Ab jetzt in Richtung Côte d’Azur. Irgendwo bei Aix-en-Provence platzt uns auf der Autobahn der linke Hinterreifen und wir hoppeln auf den Standstreifen. Ich wußte, daß ich irgendwann dankbar für den Umstand bin, das optionale Reserverad damals dazu gekauft zu haben. Die Aussage meiner Tochter zu ihrem Bruder: „Schau Leo, der Papa baut ein neues Rad an das Wohnauto damit wir nicht auf der Autobahn wohnen müssen.“ entschädigt mich für das aufschlussreiche Gefühl auf einer Straße zu sitzen während ein, zwei Meter nebenan gerne mal ein 30-Tonner an einem vorbei rauscht. Wie gesagt, es war die linke Seite. Nach einer guten Viertelstunde ist aber ungerufen ein Wagen der Straßenmeisterei zur Stelle und blockiert mal eben die rechte Fahrspur. Mein Sicherheitsempfinden steigt und das ganze ist recht zügig erledigt.

Reifenwechseln direkt auf der Autobahn, März 2018, Aix-en-Provence, F
Reifenwechseln direkt auf der Autobahn, März 2018, Aix-en-Provence, F

Am Nachmittag trudeln wir in der Nähe von Nizza ein und Sarah Sophie umarmt überschwänglich Angelina und Sasha, die neun- und dreizehnjährigen Töchter von Katja und Slava aus Berlin, die bereits angekommen sind und ihren Bungalow auf dem gleichen Campingplatz wie wir bezogen haben.

Angelina – in ihrer Familie die „Kleine“ – entwickelt in den kommenden Tagen ein derart possierliches „Große-Ersatzschwester-Betragen“, daß sich Leo langsam fragen muß wer hier eigentlich noch zu wem gehört. Sarah Sophie und Angelina beschließen selbstverständlich in „Bester-Freundinnen-Manier“ zusammen zu übernachten und somit ist das große Bett über dem Fahrerhaus sofort geblockt indem sämtliche Kuscheltiere, Malutensilien und Nagelacke nach oben bugsiert werden. Gefühlt zwanzig mal pro Tag werde ich ab sofort von Angelina gefragt, wann Leos Windel zu wechseln ist, wann Leo essen muss und wann Leo was weiß ich nicht nicht noch was braucht. Angelina beschließt die „Große Schwester“ zu sein und übernimmt tatsächlich nahezu alle anfallenden Aufgaben im Kleinkindbereich. Erstaunlich entspannt lässt Sarah Sophie sie gewähren – wahrscheinlich wissend, daß es sich hier um ein endliches Projekt handelt und Du beschränkst Dich Deinerseits darauf schlaue Ratschläge in Richtung der neuen „Großen Schwester“ zu geben. Aber nur am ersten Tag.

Danach werden Leos Windeln ungefähr doppelt so oft gewechselt wie nötig und Essen darfst Du auch nicht mehr alleine, denn nun sind ja zwei Mädels im Wettstreit wer hier was besser kann. Stören scheint Dich das hingegen überhaupt nicht. Ich glaube Du isst in diesen Tagen einfach doppelt so viel.

Gerade gerückt wird der interne Familienfrieden übrigens am letzten Tag mit einer einfachen Aussage meines Sohnes: Auf die schier unendlich wiederholte Frage der jungen Damen an Dich „Leo, wen magst Du mehr? kommt stets die gleiche Antwort: „Diss!“ Gefolgt von einer herzlichen Umarmung Deiner Schwester. Warum die nun neuerdings „Diss“ heißt, verrätst Du uns sicherlich irgendwann einmal.

Hinreißend bist Du gleichwohl auf Deine ganz eigene Art. Fragt Angelina Dich dasselbe alleine ohne Deine Schwester in der Nähe, wird sie sogleich umarmt. Hierbei hingegen aber völlig schweigsam – so kann man Dir nicht nachsagen gelogen zu haben.

Charmant mein kleiner Kerl – von wem Du daß wohl hast?

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 79./ 27. Monat – Ich auch!

Wie in jeder anderen Schule auch, herrschen die Verantwortlichen von Sarah Sophies Grundschule ebenfalls über verschiedene bewegliche Ferientage, deren Einsatz einem manchmal nicht so direkt einsichtig ist – zumindest mir. Als ich im vergangenen Jahr einen Brief mit den diversen Terminen der Schule in Händen hielt, habe ich diesen bereits kopfschüttelnd beiseite gelegt, aber in diesem Monat laufen die ersten von besagten Tagen bei uns auf und zwar um Karneval herum.

Die Jüdische Gemeinde zu Düsseldorf beteiligt sich im aktuellen Jahr erstmals mit einem eigenen Wagen am Rosenmontagszug und vermutet wahrscheinlich soviel Aufregung für die Mitglieder, daß sie ihren Grundschülern erstmal drei Tage frei gibt; möglicherweise um einer ordentlichen, brauchtumspflegenden Assimilation erst gar nicht im Wege zu stehen. Soviel rheinisch-jüdischem Weitblick hängt unsere Schule noch einen – ebenfalls schulfreien – Konzeptionstag am Aschermittwoch an und somit hat Sarah Sophie von Freitag bis einschließlich Mittwoch keinen Unterricht und wir somit viel Zeit. In wundersam unspektakulären Verhandlungen verschieben wir Sarah Sophies karnevalsübliche Verkleidungsorgien auf Purim ein paar Wochen später unter Zuhilfenahme des Wissen, daß Ihr dann einen ganzen Tag in der Schule alle verkleidet herumtobt und der Unterricht an diesem Tag ebenfalls ausfällt.

Oder anders ausgedrückt: Natürlich fahren wir weg und zwar nach Marseille. Da ist zwar kein Karneval aber dafür scheint schonmal die Sonne ein bisschen und es ist etwas wärmer. Donnerstag-Abend geht es los und am nächsten Morgen nach ein paar Stunden Schlaf in einem – sagen wir mal interessanten – Hotel bummeln wir durch die Altstadt von Orange kurz vor dem eigentlichen Ziel. Und da ist er das erste Mal – der Satz, der die nächsten Tage bestimmen soll: „Ich auch!“

Rein zufällig finden wir uns alle zusammen in einer Kinderboutique ein, in welcher Eure Mutter mal wieder allerlei Kleidchen, Mäntelchen und Mützchen an Euch ausprobiert und die dringlich benötigten Kleidungsstücke über den Kassentresen schiebt. Leo bemerkt das hier ein Ungleichgewicht in Richtung Schwester vorherrscht und fordert ebenfalls ein neues Hütchen für sich ein, indem er sich einen Sommerhut in zartem Rosa erst auf den Kopf und anschließend jovial neben die Kasse legt. Das „ch“ will noch nicht so richtig über Deine Lippen und so folgt auf der Tonspur zur Handlung ein „Iss auch!“

Weiter gehts nach Marseille. Die Schlüsselübergabe unserer Wohnung am alten Hafen gestaltet sich sehr „französisch“. Ans Telefon bekommen wir unseren Vermieter nicht, aber ein freundlicher Nachbar kennt die Telefonnummer seiner Frau und die Sache läuft. Jedenfalls sind wir gegen Mittag irgendwie angekommen.

Die traditionelle Ausflugsfahrt mit dem Boot zum Château d’If sparen wir uns angesichts einer schier endlosen Schlange am Ticketschalter und verschieben Euren Ausflug auf die literarische Gefängnisinsel auf spätere Jahre. Marseille gehört für Eure Mutter und mich zweifellos zu den Städten, in denen man immer mal wieder absichtlich strandet.

Aber eine Bouillabaisse darf – vor allem für Eure Mutter – natürlich nicht fehlen und so quetschen wir uns am nächsten Mittag in ein hübsches Fischrestaurant vor dem nicht ein freundlich-bestimmender Herr in einem Duzend Sprachen umherkobert und die Speisekarte anpreist.

Dafür nimmt sich der Patron persönlich Deiner an, da Sarah Sophie offenbar vergessen hat, daß sie die vergangenen Jahre durchaus Fisch in allerlei Variationen gegessen hat, aber eben jetzt überhaupt nicht, auf gar keinen Fall, niemals nie auch nur ein Grätentier zu sich nehmen im Stande ist. Ihr einigt Euch auf Spagetti Napoli und alles ist gut.

Wir beschließen für Leo keine gesonderte Portion zu bestellen und wissen bald, daß dies keine direkt gute Idee ist. Das Essen kommt und Leo möchte probieren: Und zwar gleichzeitig, jetzt und hier und vor allem sofort. Da gibt es nichts zu diskutieren und mein Steinbutt reduziert sich zusehends in gleichem Maße wie die Bouillabaisse Eurer Mutter. Leo hat Appetit und fordert die Verantwortlichkeit Eurer Eltern hierfür lautstark ein. Sobald wir Eltern die Gabel heben kommt der immergleiche Weckruf: „Iss auch!“ und Leo stopft sich die Backen voll. Und das meine ich wirklich wörtlich.

Ein aufmerksamer Patron fragt unauffällig, ob hier noch Nachholbedarf besteht, was ich situationsbedingt natürlich bejahe. Zum nächsten Gang meldet sich auch Deine Schwester mal wieder nachdem sie gemütlich in ihrer Pasta umhergedreht hat: „Ich auch!“ ertönt es von der Seite während ich Leo ein Stück gegrillten Fisch in den Mund bugsieren.

Machen wir es kurz: Dreimal Nachschlag, zwei Flaschen Rosé und von beiden Kinderseiten ein synchrones „Ich (Iss) auch!“ während mir die Dessertkarte ausgehändigt wird runden unser Mittagessen stilecht ab.

Zum Abendessen brate ich Leo Fischstäbchen und Sarah Sophie schnappt sich direkt das erste vorweg. „Ich auch!“ bedeutet wohl, daß hier weiteres gefordert wird.

Fischstäbchen mochtest Du übrigens bis dato noch nie – aber bisher hat ja auch noch nie ein kleiner Bruder mir seiner Gabel vor Deinem Gesicht herumgefuchtelt. Bevor noch etwas passiert lege ich nach – und da kommt es auch schon von Euch beiden: „Iss auch!“

Abends, als ihr bereits schlaft, bereite ich das Essen für Eure Mutter und mich. Dem Entkorken einer Flasche folgt sogleich ein wohlbekannte Satz: „Ich auch!“

Helau alle Zusammen aus Südfrankreich.

Geschrieben in Taglio-Isolaccio, Korsika, Frankreich.

Der 78./ 26. Monat – „Hallo, hier ist die Yitzhak-Rabin-Schule“

Es klingelt das Telefon und ich höre immer den gleichen Satz: „Hier ist die Yitzhak-Rabin-Schule. Sarah Sophie hat Bauchschmerzen und möchte abgeholt werden.“ So, oder so ähnlich geschieht es in diesem Monat mindestens einmal pro Woche. Mal sind es Bauchschmerzen, dann tut der Kopf weh oder Dir ist einfach nur schlecht. Das kann sicherlich mal einfach so sein, aber es häuft sich ordentlich. Nicht selten kommt so ein Anruf mehrfach die Woche.

Wir haben ein Problem. Nur wie sich das lösen lässt ist mir derzeit schleierhaft. Diverse Arztbesuche ergeben stets das gleiche Bild verbunden mit der Kinderarzt-Aussage die wahrscheinlich alle Eltern viel zu oft hören und so ziemlich gar nichts aussagt: „Wir müssen das beobachten!“ Diese Beobachtung verläuft dann in etwas so: Ich danke der verehrten Kundschaft für ihr fulminantes Verständnis während ich meine Tasche packe und mache mich, wie man so schön sagt, „vom Acker“. Dann trudel ich in Deiner Schule ein um Dich meist auf dem Sofa in Eurer Klasse in Empfang zu nehmen. Jawohl in Deinem Klassenraum steht wahrhaftig ein Sofa, damit die kränkelnde Schülerschaft nicht auf ihren Stühlen hocken muss. Eigentlich ganz sinnvoll, sieht aber irgendwie ulkig aus. Deine Klassenlehrerin, Frau Winterbach, informiert mich kurz über den Verlauf und dann trage ich Dich für gewöhnlich zum Auto. Sind wir zuhause, wird es manchmal besser, nicht selten rufe ich aber am folgenden Morgen Deine Schule und den Schulbusfahrer an um dich für den jeweiligen Tag zu entschuldigen.

Mir schwand übles. Absichtliches Vortäuschen körperlicher Gebrechen um dem Schulbesuch zu entgehen traue ich Dir aber nicht wirklich zu und Deine Verlautbarungen klingen auch durchaus glaubhaft. Doch was ist zu tun? Wenn Du nicht einen riesigen Berg nachzuholender Seiten in Umi-Fibel und Co anhäufen und ich meine Kundschaft nicht in Mitbewerber-Hände treiben möchte braucht es eine Lösung – und zwar zeitig. Zum Thema Bauchweh schleppt Dich Eure Mutter zum Ernährungsguru Nummer eins, der sich unter anderem dafür verantwortlich zeichnet, daß Eure Mutter einen derart individuellen Speiseplan befolgt, daß sogar ich überrascht bin, was es so alles für spannende Produkte zu kaufen gibt.

Der diagnostiziert nach einem vollständigen Stoffwechselscreening allerdings lediglich eine leichte Lactose-Intoleranz und gibt aus Speisezettel-Sicht grünes Licht. In der nächsten Woche hast Du Rückenschmerzen und wir fahren von der Schule direkt zum Kinderarzt. Der wiederum diagnostiziert eine sogenannte „Blockade“, welche sich aber mit osteopathischer Behandlung beheben lässt. Unpraktischerweise hat die dazugehörige Fachfrau erst in sechs Wochen einen Termin frei und ich telefoniere mit Eurer Mutter um Alternativen zu erörtern. Die wiederum erklärt ihren Kunden nun wiederum, daß es an der Zeit ist sich gerade mal zwei Stunden alleine zu beschäftigen und hängt sich ans Telefon.

Am Nachmittag kommt die Info, daß Du um 17 Uhr einen Termin bei Svetlana hast, die sei zwar keine Ärztin sondern Physiotherapeutin, genieße aber das volle Vertrauen Eurer Mutter – die sie überhaupt nicht kennt – denn ihre Kenntnisse seien sehr fundiert und überhaupt hat sie schon vielen Bekannten von Bekannten geholfen. Diese doch gewiss mehr als beruhigende Aussage, gepaart mit dem pragmatischen Lösungsansatz: „Es gibt heute noch einen Termin!“ überzeugen mich selbstverständlich in größtmöglichen Umfang.

Svetlana ist Anfang/ Mitte fünfzig und schließt Dich vollends in Ihr Herz und an die Sprossenwand. Nach einer Viertelstunde wird mir eine seitliche Verkrümmung Deiner Wirbelsäule, eine sogenannte Skoliose, diagnostiziert und weitere zehn Minuten später bin ich über die klinischen Möglichkeiten hierzu vollends informiert. Die hierfür in Frage kommenden Fachklinik zur endgültigen Diagnose und dem darauf folgenden Behandlungsplan liegt in einer thüringischen Kurstadt 350km entfernt und zwei Wochen später hast Du dort einen Termin.

In der Zwischenzeit vernehme ich noch zwei oder dreimal den vertrauten Satz „Hier ist die Yitzhak-Rabin-Schule, usw.“ und verbringe den Tag mit Dir zuhause. Optimale Sportarten sind hier übrigens Klettern, Reiten und Schwimmen. Klettern gehst Du ohnehin jeden Mittwoch, im Schwimmbad sind wir regelmäßig und das Thema Reiten, hast Du jetzt mit Deiner so ganz eigenen Art charmant besetzt:

„Papa, wenn das jetzt so gut für meinen Rücken ist, dann bekomme ich doch ein eigenes Pferd, oder? Das ist doch jetzt wichtig!“ Wir verhandeln zunächst einen regelmäßigen Besuch Deiner geliebten Ponyfarm und das Thema ist erstmal vom Tisch. Bemerkenswert finde ich die Schlussfolgerung aber allemal.

Die thüringische Medizinalfahrt absolvierst Du mit Eurer Mutter um dort zu erfahren, daß es eben doch keine Skoliose ist sondern Du über einen unzureichenden Muskelaufbau verfügst, dem mittels gymnastischer Sportaktivität aber beizukommen ist. Wie das allerdings nach drei Jahren Waldkindergarten und Deinem ausgeprägten Bewegungsdrang überhaupt sein kann wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Ein paar Tage zuvor, wurde ich übrigens auf dem Schulhof von einer burschikosen Dame angesprochen, die mir eröffnet Sarah Sophie müsse unbedingt in ihren Gymnastikkurs am Montag-Nachmittag nach der Schule angemeldet werden. Auf meine Nachfragen, warum, weshalb, wieso blickt mich die Dame irritiert an, zeigt auf Dich und antwortet kopfschüttelnd „Ja, sehen sie denn nicht, daß Gymnastik für sie perfekt ist – so sportlich wie sie ist. Schicken sie sie zu mir! Bis nächsten Montag, 15:45 Uhr hier in der Turnhalle.“ Das nenne ich aktive Kundengewinnung und fühle mich etwas überfahren.

Über dieses Gespräch informiere ich Eure Mutter wiederum auf der Rückfahrt von der thüringischen Klinik und sie schafft es doch tatsächlich innerhalb der vierstündigen Rückfahrt besagte Dame ans Telefon zu bekommen. Was auf dieses Telefonat folgt bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung. Am kommenden Montag sind wir folglich zum Schnupper-Turnen bei Ludmilla, die sowohl von Alter als auch Tonfall her bereits sowjetische Kunstturner zu Olympiareife gepeitscht haben dürfte. Aber ich muss zugeben, das Ganze sieht recht effektiv aus und scheint für unser Problem perfekt geeignet. Sarah Sophie braucht noch einen zweiten Anlauf um sich mit Schwester Rabiater zu arrangieren, aber dann ist alles gut und wir sind überraschend auch noch Mitglied in einem jüdischen Sportverein.

Sarah Sophies und Leos erster gemeinsamer Sportverein, Januar 2018
Sarah Sophies und Leos erster gemeinsamer Sportverein, Januar 2018

Ja, und zwischendurch hat mich auch mal jemand anderes angerufen – klang aber ähnlich: „Hier ist der Kücken und Co.-Kindergarten. Der Leo fühlt sich nicht gut und möchte abgeholt werden.“

Aber jetzt gebt schon zu, ihr habt Euch abgesprochen – die Anrufe kommen nie zeitgleich. Ist auch praktischer; wer braucht denn schon zusätzlich noch ein kränkelndes Geschwisterchen zuhause. Neuerdings tauche ich übrigens Dienstags mit Leo hier zum Eltern-/ Kind-Turnen auf. Vielleicht nur prophylaktisch, aber ich fühle mich irgendwie vorgewarnt. Und da ist die große Schwester natürlich in der ersten Reihe ebenfalls mit dabei.

Angerufen hat mich seither übrigens keiner mehr. Die Sache scheint zu laufen.

Geschrieben in Sauvian, Okzitanien, Frankreich.