Prolog: Das wird auf jeden Fall ein Junge

“Jungs geben die Schönheit, Mädels nehmen die Schönheit” Dieses geburtsvorbereitende Vorurteil scheint Russen, Juden und Deutschen zu einen. Jedenfalls waren sich in Deinem Fall alle beteiligten Volksgruppen genau darüber hundertprozentig der gleichen Meinung. Mutti hat ein verhältnismäßig kleines Bäuchlein also wird es ein Junge. Der Junge heißt Sarah Sophie ist am 30.07.2011 geboren und wiegt 2.710 Gramm. Gut, die volkstümliche Geschlechtsbestimmung ging schon mal daneben, aber sonst gab es schon einiges zu berichten. Genau kann ich mich nicht wirklich erinnern, aber der fehlende freitägliche Gin-Tonic setzte Deiner Mutter derart zu, daß Sie Deiner Geburt entgegenfieberte wie ein ausgetrockneter Alkoholiker dem Ende seiner Therapie. Aber Du hast Dir Zeit gelassen. Genau genommen 3 Tage. Irgendwann waren sich die beteiligten Damen am Mutterprojekt: Fr. Enzel, die Gynäkologin; Anette, die Hebhamme; eine namenlose Ärztin im Krankenhaus und Deine Mutter einig, dass es nun doch langsam losgehen könnte und verfrachteten Euch an einem Mittwoch in die Kaiserswerther Diakonie. Kein Glück hatte, wer Schwester auf der Station Deiner Mama war: Es passierte nämlich exakt das, was nach einer sogenannten Geburtseinleitung meistens passiert: Rein gar nichts. Deiner Mutter, ausgezeichnet mit einer eher mangelhaften Geduld, beginnt also Ihre Umgebung wahnsinnig zu machen. Am zweiten Tag wird gar Anette zu Hilfe gerufen, aber auch sie weiß natürlich keine Abhilfe zu schaffen. „Das wird schon“, „das braucht seine Zeit“ sind Aussagen die wahrscheinlich jede werdende Mutter nicht hören möchte, Deine aber schongleich gar nicht. Du aber hast Dir Zeit gelassen und es passierte bis zu Freitag erstmals gar nichts. Am selbigen bin ich dann mit leichtem Übernachtungsgepäck in Richtung Krankenhaus umgezogen. Einmal mit Deiner Mutter im strömendem Regen durch den Park spaziert, das rechtsgedrehte homöopathisches Geburtswässer in eben diese Richtung gedreht und schon lief alles nach Plan. Freitagabend, 23:00 begann etwas was meine Wahrnehmung der Dinge nachhaltig verändert hat.

Dein Vater konnte erst am Freitag in die Klinik kommen, also hast Du artig auf ihn gewartet. Ein Kind sollte in eine Familie geboren werden, und die hat gefälligst vollständig anwesend zu sein. Samstag 4:45 Uhr warst Du da. Die längste Nacht meines Lebens endet mit dem Beginn Deines Lebens und das pünktlich zum Wochenende. Meine Tochter ist einfach großartig. Wir verbringen zwei Tage zu dritt in einem ein Meter breitem Bett, das sollte schon mal zusammenschweißen. Am dritten Tag sind wir als kleine Familie aus dem Krankenhaus aus- und zuhause wieder eingezogen. Deine Mutter und ich waren natürlich verzückt, dass Du da warst, aber eigentlich hast Du gefühlte 23 von 24 Stunden geschlafen. Meine Jungs, obwohl in den meisten Fällen selbst bereits gestandene Väter hielten sich erstaunlich zurück und so gab es kaum gute Ratschläge.

Was ein anständiger deutsche Sommer ist, so regnet es selbstredend im August gehörig und die ersten Tage verbrachten wir fast nur zu Hause zumal ich Dich gar nicht soviel anziehen konnte wie ich Dich vor Witterungseinflüssen, hustenden Passanten oder anderweitigen Bakterienkolonien schützen möchte. Die frühere Vater-Kind-Beziehungsphase erleben wir daher indoor, genau genommen Du auf meine Bauch liegend wobei ich mich ständig frage wie ein unmittelbar geborener Säugling diese Hügelregion als Schlafplatz auch nur annähend akzeptieren kann. Du jedenfalls findest ihn offenkundig wunderbar und bist regelmäßig nach Ablage in Solidaritätsschwanger-Gebirge friedvoll entschlummert. Ich konnte zu dieser Zeit folglich gar nicht abnehmen, wollte ich das Wohlsein meiner Tochter nicht unnötig aufs Spiel setzen.

Auch ein pessimistischer Hochsommer hat seine sonnige Tage und so ziehen wir mit Dir im Alter von zwei Wochen auf die Düsseldorfer Rheinwiesen um Deiner Mutter eine zweifache Freude zu bereiten: Es gibt wieder Sushi. Einer sekundär mitteleuropäisch sozialisierten Russin rohen Fisch vorzuenthalten und das nicht über Tage, sondern monatelang kann beinahe eine Überstellung an das UN-Tribunal in Den Haag rechtfertigen. Ist die Leidensphase dann aber vorbei, gibt es kein Halten mehr. Wie Japanerinnen Kinder bekommen, weiß ich nicht, hierzulande gilt Sushi schlichtweg als Schwangerschaftsinkompatibel. Folglich setzt nach erfolgter Niederkunft ein derart großes Verlangen ein, dass wir drei mittelgroße Tabletts an einem sonnigen Augustnachmittag auf die Rheinwiesen wuchten, und somit Deine Mutter in siebten Himmel wähnen. Das ich mir eher wenig aus Sushi mache ist an dieser Stelle zu vernachlässigen. Deine Mutter sitzt auf der Decke und freut sich über all die kleine Röllchen, die sie um sich verteilt hat. Ich sitze Ihr gegenüber, freue mich mit ihr und verteidige unserer kleines Territorium gegen so manche umfliegende Fußball.

Es ist schön sich als Held zu fühlen. Natürlich war das Sushi-Picknick meine Idee.

1. Monat – Rheinisch geboren

Genug irritierende Blick erntet jeder ohnehin, schleppt man ein gerade erst einige Woche altes Baby überall mit hin. Das ist normal, trotzdem unverständlich aber eben erträglich. Die deutsche Kleinfamilie hat sich bitte im verborgenen zu entwickeln. Beschließen zwei Elternteile durch die Niederkunft eines Dritten nicht zur ausschließlichen Milchbar auf zwei Beinen und einem für alles und jeden Verständnis habenden Diplompapi zu mutieren, wird man doch Zeuge der ein oder anderen Wunderlichkeit. Deine Mutter und ich haben uns jedenfalls fest versprochen und eben nicht zu dieser Familiendegenerationsstufe zu entwickeln. du bist eine wundervolle Bereicherung unseres Lebens aber beendest nicht unser selbiges. Bin ich mit Deiner Mutter vor Deiner Geburt spazieren gegangen – was selten genug vorkam – sind wir wie von Geisterhand geführt stets auf der Ratinger Straße gelandet, genauer gesagt im Füchschen. Meist haben wir uns selbst optimiert und sind spaziergangslos im Fuchs gelandet. Deine Mutter kann eben nicht anders, ohne kontinuierlichen Verbesserungsprozess läuft bei ihr nix.

Du bist der Grund das wir jetzt spazieren gehen und da wir Dir eine gepflegte urbane Sozialisation angedeihen lassen wollen betrachten wir zuviel Grün in Form von Bäumen und Wiesen als kontraproduktiv wodurch Du gerne an Samstagnachmittagen durch die Düsseldorfer Altstadt geschoben wirst. Vermutlich wird der benachbarte Graphik- und Künstlerbedarfladen – in dem man noch ein paar Erledigungen tätigen muß – der wahre Grund sein; jedenfalls landen wir irgendwann während Deiner ersten Lebenswochen zu Deinem ersten Besuch in der traditionsreichsten aller Düsseldorfer gastronomischen Institutionen.

Ich rangiere gekonnt und nicht eben ohne Stolz Deinen knallorangenen Kinderwagen durch die schmalen Gänge bis wir einen Platz finden um Dein Gefährt köbesfreundlich einzuparken. Die partizipierenden Passanten der umliegenden Tische schauen zwar ein wenig konstatiert als Dich Deine Mutter aus der Schlafstellung in Richtung Präsentationsmodus umstellt, geben aber irgendwann mittels verzweifeltem, voll Unverständnis triefendem Kopfschütteln ihr Unverständnis zur Gleichzeitigkeit von Kind und Kneipe zu verstehen. Diese Blicke genieße ich sichtlich und als der Köbes fragt: Zwei oder schon Drei Alt bist Du auch hier standesgemäß angekommen.

Prost allerseits.

1. Monat – das Kind muß aufs Wasser

Da Deine Mutter von Berufswesen ein aktives Normadendasein führt und ich ihre Leidenschaft für das relative Nichtvorhandensein von Heimat zumindest in geografischen Sinne durchaus teile, läßt dar erste Ausflug naturgemäß nicht lange auf sich warten. Es geht zwar nur ins Nachbarland aber immerhin. Inzwischen bist Du ganze drei Wochen und ich finde durchaus ausflugstauglich. Im Mamas “Bauch” hast Du 25.000 Autobahnkilometer hinter Dich gebracht – da ist es an der Zeit die erste nautische aufs Konto zu hieven.

Glücklich ist wer Großeltern mit Bootsleidenschaft hat – Du gehörst dazu. Dein Opa kann sein Glück nicht fassen: Du bist auf den Tag genau drei Wochen alt und schon auf dem Wasser. Genau genommen in Deinem Kinderwagen im Boot meines Vaters – für ihn stehst Du damit allerdings unmittelbar vor Erlangung des Kapitänspatents. Stolz ist gar kein Ausdruck. Wir schippern die Maas einmal rauf und wieder runter, legen an, finden uns in einer Kneipe gegenüber eines Kieswerkes wieder. Das spielt aber alles gar keine Rolle mehr: die Sonne scheint, Du hast eine gefühlte Äquatortaufe hinter Dir und Dein versammeltes Großelternpaar väterlicherseits schwebt im siebten Himmel.

Abends grillen wir noch Schaschlik, Du schlummerst seelenruhig neben dem Funkenflug und spätestens nach der zweiten Schnaps weiß ich das Dein Opa rundum glücklich ist. Auch wenn er jetzt mit einer Oma verheiratet ist.

2. Monat – Schwimmkunst

Deine Mutter ist von jeher eine große Freundin aktiver Freizeitgestaltung. Ich weiß nicht welcher Irrglaube mich dazu getrieben hat, zu glauben das könnte sich durch Deine Geburt ändern. Nichts da: Pioniere voran. Du bist kaum auf der Welt schon musst Du natürlich an allerlei Aktivitäten teilhaben. Gut, vor einer Vielzahl kindesentwicklungsnotwendiger Aufbaukursen bist Du noch gefeit, da Dir gewisse grundmotorische Fähigkeiten wundersamerweise nicht in die Wiege gelegt wurden, sondern auch Du diese ganz profan erlernen musst. Ich hörte das Babyschwimmen mit dem sechsten Lebensmonat empfohlen wird. Irgendwo stand aber auch das man damit nicht früh genug anfangen kann. Also fanden wir drei uns an einem Sonntag zu der völlig untadeligen Uhrzeit von 8.30 Uhr in dem Schwimmbecken der örtlichen Volkshochschule wieder. Es Bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung das sämtliche angereisten Kinder Dein Alter um den Faktor zehn übertrafen. Aber das kann uns selbstverständlich nicht davon abhalten in Badehose und Schwimmwindel zu steigen und in ein wohltemperiertes Bassin zu steigen

Was jetzt folgt, kommt einem Slastickfilm gleich. Einer der Esoterikszene nahe stehende Vorschwimmerin erklärt der ordentlich im Wasser stehenden Gemeinde von knapp einem Duzend Gleichgesinnter welches Kinderlied kollektiv anzustimmen ist, intoniert sogleich selbst und fordert die Wasserherde auf einen im Uhrzeigersinn rotierenden Kreis zu bilden, was natürlich unmittelbar geschieht. Die Mutter- bzw. Vatertiere der Herde breiten ihrer beiden Hände vor sich aus und balancieren den Nachwuchs gekonnt vor sich her. Mit größtmöglicher väterlicher Inbrunst absolviere ich den Schwimmparcour, schrecke vor eine Richtungswechsel genauso wenig zurück wie dem Befehl mich mit Dir um die eigene Achse zu drehen – mehrfach versteht sich. Mein Nachbar wirkt nicht so entschlossen wie wir, das merke ich sofort.

Unser Beckennapoleon mogelt ein paar Strophen dazu und das Wasserballett folgt kommentarlos. Ich möchte hier keine falschen Schlussfolgerungen ermöglichen: Wasser ist ein großartiges Element und Du fühlst Dich darin wohl also mache ich hier jeden Quatsch mit. Ich neige nur eben nicht direkt dazu in einer durch Kleingruppenzwänge domestizierten Erwachsenenbildungsstätte Dein Schwimmheil zu suchen. Aber es gibt ja Alternativen:

Ein Düsseldorfer Spaßbad ermöglicht das Babyschwimmen ganz ohne Kursteilnahme und schuljahresgleiche Verpflichtung. Es ist gewiss Zufall, aber bei dieser Institution müssen wir erst um 10 Uhr vorstellig werden. Ein Umstand der mir vorab schon sehr sympathisch ist. Es gibt ein ebenso temperiertes Becken mit hübscher Plastikpalme in der Mitte zur Dekoration um die ich Dich – zu diesem Zeitpunkt ja bereits bestens mit den notwenigen Griffen vertraut – einige Runden herumbugsieren. Die freundliche Schwimmfachkraft, diesmal knapp über 20 hält keine hochtrabende Vorträge, erklärt mich sicherheitshalber nochmal wie Du zu halten bist und limitiert das ganze auf 20 Minuten. Soviel Freiheit ist schon fast ungewohnt im jungen Vatersein. Wir umrunden die Palme, verlassen pünktlich das Becken, Duschen brav und ich bin vom öffentlichen Stadtbad restlos begeistert. Pay per Swim sozusagen, keine Wasserballettgruppe aus begeisterten Übervätern und ein Parkhaus unter der ganzen Einrichtung gibt es auch noch.

Die Freude über unsere neue Sonntagsbeschäftigung währt allerdings nur kurz: Am nächsten Tag blinzelst Du mir freudig mit einer Bindehautentzündung entgegen, die ich unter Deinem verständlichen Protest knapp zwei Wochen wegträufeln darf. Du schreist wenig, aber wenn, dann wahrhaft gewaltig – das wirst Du wohl von Deiner Mutter haben – die ist auch selten zickig aber wenn dann eben richtig: sie nennt das dann begründet.

Was das Schwimmen angeht, gehen wir in der nächsten Woche wieder zur Wasserballetttruppe der Volkshochschule.

3. Monat: Sophie und Paul

Sophie und Paul – so könnte eine Liebesgeschichte beginnen oder eben der erste Irrtum im jungen Elterndasein. Deine Mutter hört nur recht leidlich Musik – ich hingegen traktiere meine Umwelt tagtäglich mit einem recht illustren Musikgeschmack der irgendwo im Balkan anfängt und in düsteren Elektroklängen noch lange nicht aufhört. Führt man beides zusammen – ich meine jetzt nicht die stilistische Ausrichtungen sondern die musikalische Gleichgültigkeit Deiner Mutter und die Elementarheit für Musikdinge meinerseits kommt für gewöhnlich ein Konzertbesuch dabei heraus. Dreierlei Veranstaltungen bette ich gerne in wunderbare Ausflüge ein und somit stellte sich irgendwann vor Deiner Geburt die Frage warum Herr Paul Kalkbrenner in Oberhausen zu besuchen sein sollte, wenn das auch in Hamburg geht. Wir fahren also an die Alster.

Zum Konzerttermin – spricht man hier eigentlich von Konzerten oder wie heißt das? – bist Du gerade zwei Monate alt und ich war – wenn auch nur kurzfristig dem Gedanken erlegen, Du würdest das Wochenende bei den Großeltern verbringen und wir führen nur zu zweit nach Hamburg. Wie gesagt diese Überlegung stammt aus der vorgeburtlichen Zeitrechnung. Welch ein Unfug. Oma und Opa kommen also mit. Die Vorstellung, Dich nicht permanent bei uns zu haben erscheint dann doch mehrere Nummern zu abstrus, obwohl wir uns vorgenommen haben nicht zu Übereltern zu mutieren und in unserem gesamten Freundes- und Bekanntenkreis mit ebensolchen Vorschusslorbeeren gesegnet sind. An einem Samstag morgens viel zu früh ist Aufbruch. Drei Generationen rollen recht dicht gedrängt nach Norden. die Fahrt klappt Wunderbar, Paul wummert – etwas zu sanft – aus den Boxen, aber immerhin stimmen wir uns ein. Zu einem vollständigen Familienausflug gehört bei uns natürlich auch noch ein Hund, der trefflich platziert auf dem großmütterlichen Schoß zu thronen geruht. Meine Mutter ist der festen Überzeugung die Sensibilität des Hundes ist mit einer Platznahme im Fußraum unvereinbar. In Hamburg angekommen verweigert wenig wundersam unsere Haus- und Hoffischbude den tierischen Zutritt weswegen wir auf ein benachbartes Restaurant in norddeutschem Rustikalambiente ausweichen. Kein Problem Familien haben flexibel zu sein. Anschließend zum Check-In im Hotel. Warum sich jeder der artigen Unterkunftsmitarbeiter dazu berufen fühlt uns drauf hinzuweisen, daß wir kein gesondertes Kinderbett geordert haben, bleibt ein Rätsel. Wahrscheinlich meinen Sie es alle nur allzu gut und gehen davon aus, das junge Eltern solch banale Beiläufigkeiten schon einmal vergessen könnten. Man bemüht sich um uns: Wie nett!

Es ist früher Nachmittag und wir treffen die Vorbereitungen Dich in die abendliche Obhut Deiner Großeltern geben zu können – heißt das Grund- oder besser gesagt das derzeit einzige Nahrungsmittel muss aus Brust in Flasche umgepumpt werden. Mir waren solche Gerätschaften bis vor wenigen Wochen noch völlig unbekannt, aber es gibt Dinge die gehören nun zu unseren unabdingbaren Reiseutensilien dazu. Die kleine gelbe surrend-pumpende Maschine ist ein solches Vehikel. Es ist langwierig aber zuverlässig. Es ist eine sonderbare Vorstellung Dich, wenn auch nur für ein paar Stunde nicht direkt bei uns zu haben (Etwas in der Richtung erwähnte ich bereits, glaube ich). Ich selbst bin wohl der lebende Beweis der eindeutigen Kompetenz Deiner Großmutter für ein solches Vorhaben, aber es bleibt eben dieses befremdliche Gefühl, was einen überkommt, tut man Dinge gegen die man sich im Inneren wehrt, der Kopf aber ja sagt. Selbstverständlich will ich die Abendveranstaltung mehrfach absagen, erfinde immer neue Symptome an Dir um eben diese Entscheidung herbeizuführen. Nach dem Vortäuschen einer plötzlichen Darmgrippe ist endgültig Schluss und Deine Mutter zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Wenn der oberste Sowjet etwas beschließt dann bleibt das auch so. Punkt! Einen Fünfjahresplan hat man in der Sowjetunion auch nicht mal eben wieder umgestossen. Die Verhandlungen darüber sind endgültig gescheitert und ich hole das Auto. Kurz vor acht parken wir direkt vor der Alsterdorfer Sporthalle, der Stätte des Event. Die meissten Einlassbegierigen sind halb so alt wie ich – ein Umstand an den man sich bei derlei Veranstaltungen im Läufe der Zeit gewöhnt, will man nicht sein musikalisches Kulturinteresse auf Rockformationen im gesetzten Alter beschränken. Eine halbe Stunde später stehe ich eine ebensolche lang in einer Schlange um zwei Getränke erwerben zu können. Ich mag Hamburg aber in Sachen Bierkultur können sie von den Rheinländern wirklich noch einiges lernen.

Währenddessen gibt sich der Supporteinpeitscher alle Mühe ein paar tausend Partygänger auf Musikkurs zu trimmen. Nicht gesondert erwähnenswert ist der Umstand, daß Deine Mutter das iPhone nicht aus den Augen läßt, aber die Großeltern melden keinen Mutter-vor-Ort-Bedarf an. Es schön zu wissen, beruhigend zu sehen, nicht der einzige zu sein, welcher gegenwärtig vielleicht einen Hauch zu fürsorglich wegen Dir ist. Während eines weiteren Warteschlangenmanövers am Bierstand erfahre ich das sich Herr Paul gerne ein paar Stündchen Zeit läßt auf der Bühne zu erscheinen um dann allerdings mehrere Stunden an Reglern und Files herumzudrehen. Das tut er hier auch: Er kommt um elf, wir gehen um halb zwölf. So lange wollen wir Dich eben doch noch nicht alleine lassen. Wir fahren zum Hotel zurück und erhalten ein friedvoll schlummerndes Kind ausgehändigt. Gut, wir hätten also bleiben können. Dein Opa bemerkt noch wie lange doch heutzutage solche Veranstaltungen dauern. Da gebe ich ihm Recht und nächste Woche schaue ich mal bei YouTube vorbei um ein paar Highlights von Paul zu hören. Am Sonntag machen wir alle zusammen noch eine Hafenrundfahrt. So gehört sich das für einen Familienausflug. Ahoi!

3. Monat – Der Klassiker

Als Dein Opa jung war gab es für eine ganze Generation nur ein erklärtes Reiseziel. Und das liegt sehnsuchtsvoll verklärt jenseits der Alpen: Italien. Da hat Opa gelernt das die Pfannkuchen dort Pizza heißen und alles andere als süß schmecken, Kaffee nicht aus einer Militta-Filtertüte kommt und es Eisdielen mit mehr als Vanille, Schokolade und in selten Fällen noch Erdbeereis gibt. Kurz und gut ein gutes Fleckchen Erde. Und wenn mein Vater etwas macht, dann macht er es richtig. Ich war in meiner Kindheit gefühlt dutzende Male an dem norditalienischen Bergsee schlechthin: dem Lago di Garda in der Nähe von Verona. Auch wenn Spüdtirol nur eine von insgesamt drei Provinzen ist, die sich die Verwaltung des Sees teilen, man spricht deutsch! Das dürfte mithin der Grund dafür sein, daß ich den See nie wirklich zu Italien gezählt habe, da ich zeitlebens das Gefühl hatte ehe am Starnberger See zu sein. Der hat zwar nichts mit Südtirol zu tun, aber muss jetzt hier als Vergleich einfach mal herhalten. Nichtsdestotrotz ist das Seeufer beiderseits schick und auf den Bötchen wehen italienische Fähnchen, sozusagen Italien für Anfänger – womit wir beim Thema wären.

Die geringe Entfernung von knapp 1.000 km laden zusätzlich zu einem verlängerten Wochenende ein. Im Jahr Deiner Geburt fiel der deutsche Nationalfeiertag auf einen Montag. Was liegt also näher als das Feiertagsland zu verlassen und die letzten warmen Sonnenstrahlen des Herbstes unter südlicherer Sonne zu verbringen. Außerdem ist es der Klassiker aller deutscher Urlaubsreisen: Mit Kind und Kegel nach Italien. Wenn es um Ausflüge geht dürften sich Deine Mutter und ich uns schon als recht professionell bezeichnen. Donnerstag wird flugs gepackt und Freitag chauffiert Deine Mutter weit vor dem eigentlichen Feierabend unser Auto auf den Agenturhof. Erwähnte ich bereits, daß ich das Freiberuflerleben manchmal besonders passend finde? Jedenfalls rollen wir gegen 16 Uhr gen Autobahn. Schön ist selbstverständlich das so viele Zeitgenossen ebenfalls freiberuflich unterwegs zu sein scheinen; jedenfalls sind wir nicht die einzigen mit der bravourösen Idee kurz vor Feierabend bereits ins lange Wochenende zu starten – aber wer möchte schon alleine auf der A 3 sein. Egal – Hauptsache unterwegs! So schön ich das Rheinland finde, strategisch für Ausflüge jenseits der Alpen liegt es nunmal nicht. Es folgen einige Stunden der üblichen Autobahnkilometer die durch nette kleine Abwechslungen in Form dieser hübschen Sandwiches aus höchstpersönlicher Fertigung Deiner Mutter erträglich werden. Bereits in der Schweiz unmittelbar hinter dem Gotthard-Massiv legen wir die Nachtruhe ein oder besser gesagt ich lege mich zu auch, da sowohl Deine Mutter wie auch Du seit Stunden friedvoll entschlummert seit. Von hieraus ist es nicht mehr weit.

Am nächsten Morgen fahren wir weiter und erreichen am vormittag das hübsche Örtchen Lazise mit einem ebensolchen Campingplatz direkt am See. Zu diesem Zeitpunkt bist Du gerade zwei Monate aber für einen waschechten lokalen Campingplatzfachwirtsanwärter spielt das selbstredend keine Rolle. Mit wird eine Platzkarte auf den Namen Sarah Sophie ausgehändigt – eigentlich praktisch, denn mit ihr kannst Du jetzt ganz alleine kommen und gehen. Vielleicht probieren wir da morgen mal aus und Du gehst alleine einkaufen. Die Idee verwerfen wir aber doch wieder und okkupieren stattdessen lieber unverzüglich den Bootssteg mit Wolldecke und Kinderwagen. Gegen Nachmittag öffnet die Strandbude und jetzt hat Dein Vater richtig Urlaub. Ja ich gestehe: ich trinke schrecklich gerne Bier an Strandbuden. Genau genommen sammle ich Strandbude und ihre verbreitenden Urlaubsgefühle weltweit. Das Wetter ist herrlich und wir haben Dich unter eine kleinen Sonnenschirm verfrachtet. Zu gerne würde ich Dich endlich mal nackig in die Sonne legen aber dafür bist Du doch noch etwas zu klein.

Auf der obligatorischen Bootsfahrt über den See bekommen wir mehrfach gesagt wie hübsch doch das kleine Bambini ist. Diese Aussagen halten Dich allerdings in keiner Weise davon ab kurz vor dem Aussteigen – wo Du mit mir brav und artig anstehst aus heiterem Himmel unvermittelt und ohne irgendeinen erkennbaren Grund lauthals loszubrüllen. “Großartig” sage ich mir, eine Elternprüfung vor versammelter Ausflugsriege. Ich beabsichtige die Situation eloquent zu parlieren, scheitere mit meinen Beruhigungsversuchen allerdings auf der ganzen Linie. Meine Tochter setzt mich völlig schutzlos den vorwurfsvollen, Kinderkompetenz absprechenden Blicken eines kompletten Ausflugsdampfer aus. Die Damen jenseits der 50 schauen in einer Solchen Situation besonders überheblich, jene um die 40 meist mitleidsvoll und alles um die 30 schüttelt ausnahmslos den Kopf. Selbstverständlich beruhigst Du sobald Dein brutaler Vater Dich nach mehreren erfolglosen Versuchen endlich in die rettenden Arme der Mutter freigibt, augenblicklich und umfassend. Im gleichen Moment legt der Dampfer an und die eingeschworene wortlose Vorwurfsgemeinde sucht lieber das Weite bevor der gewaltbereite Kinderquäler auch noch zum Amokläufer mutiert und nach neuen Opfern Ausschau hält. Ja, eine Schifffahrt ist schon schön.

Am letzten Tag Deiner italienischen Primarimpression outen sich Deine Eltern dann endgültig. Wir steuern einer dieser riesigen Supermärkte an und kaufen das vollständige Regal einer beliebten Limonadensorte leer. Aus unerfindlichen Gründen versagt die italienische-deutsche Globalisierungswelle im Limonadenbereich vollständig und Deine Mutter trinkt keine andere Limonade als eben diese. So waren wir uns vor dem Wochenende recht schnell einig: Das Kind muss doch mal Italien sehen.

4. Monat – Mama 2.0

Frauen sind multitaskingfähig, das weiß man und richtet sich danach. Deine Mutter kann beispielsweise Fernsehserien schauen und zeitgleich mit mir elementare Grundlagendiskussionen führen. Ein Umstand den ich erstens grauenhaft und zweitens ungerecht finde.

Grundlagendiskussionen – eine per se weibliche Erfindung – sind schon garstig grauenvoll genug, in Kombination mit deutschem Serienfernsehprogramm schier unerträglich. Während genau einer solchen Situation eröffnete mir Deine Mutter die höchsteigene Planung ihrer Elternzeit, also der zwölf Monate die sie theoretisch eigentlich arbeitslos im Sinne des Bruttoinlandsprodukt zuhause verharrt, gesellschaftlich isoliert, wirtschaftlich zurückgesetzt und intellektuell unterfordert ausschließlich einer Tätigkeit nachgehen wollte: nämlich sich um Dich zu kümmern. An dieser Stelle lege ich gesteigerten Wert meine absolute Zufriedenheit mit dem Erfüllen dieses Arbeitspensums auszudrücken.

Das deutsche Gesetz bestimmt, daß eine bundesdeutsche Mutter spätestens einen Monat vor verplanter Niederkunft aufhört der Solidargesellschaft geldwerte Vorteile zu übereignen und stattdessen beginnt eben diese zu erhalten. Im vorliegenden Fall ist natürlich auch dieser Umstand optimiert worden und der letzte Arbeitstag Deiner Mutter war der 1. Juli. Klassenziel also um einen Tag unterboten. Zurück zur Diskussion: Da wir es im gesamtgesellschaftlichen Interesse für unverantwortbar halten das die internationale Luftfahrt zum Erliegen kommt weil eine ausreichende Zulieferung an Armlehnen, Klapptischen und sonstigem Kabineninterior nicht mehr gewährleistet werden kann, nur weil eine Russisch-Deutsche Familiengründung ansteht und in deren Folge ein badischer Schäumungsbetrieb von seiner Lieblingsunternehmensberaterin Abstand nehmen muß, habe wir – in solchen Fällen spricht Deine Mutter ausnahmslos im Plural – die Entscheidung getroffen besagten Schäumungsbetrieb auch während des einjährigen beruflichen Zwangsausstieges weiterhin zu betreuen und beraten. Im vierten Lebensmonat steht der erste derer Termine an. Konkret bedeutet dies von nun an in jedem folgenden Kalendermonat eine Woche Anwesenheitspflicht vor Ort.

Dieser Ort liegt irgendwo im Nirgendwo zwischen Freiburg und Zürich ziemlich genau in der Mitte und hört auf den Namen Albruck. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, daß diese kleine Klapptische mit der Vertiefung für den Getränkebecher nicht aus einer fernöstlichen Industrieproduktion stammen sondern von einem feinen mittelständischen Unternehmen am Füße des Schwarzwaldes. Da vor jedem Wochenbeginn ein Wochenende liegt und Deine Mutter im Läufe der Zeit es wohlwissend verstanden hat mir alles was sie für unabdingbar hält blumigst zu verkaufen – in dieser Fähigkeit ist sie sehr jüdisch – haben wir ein gemeinschaftliches Einstimmungswochenende in München vor unseren ersten interfamiliären Arbeitseinsatz gebastelt. Zugegeben München liegt nicht unmittelbar auf dem Weg vom Rheinland in die badische Provinz, aber auf solche kleinlichen Befindlichkeiten kann in diesen Zeiten keine Rücksicht genommen werden. München bietet das was zum modernen Familienentspannungsleben dazugehört: Biergärten, Brauhäuser und Schuhgeschäfte. Der äußerst milde und sonnige November Deines Geburtsjahres läßt die Sinnbildhaftigkeit bayerischer Gastronomiekultur glücklicherweise zu dieser späten Jahreszeit noch geöffnet und somit hast Du im Alter von vier Monaten Deine ersten Nachmittage in der Glückseligkeit der ältesten Münchener Brauereien und deren Biergärten erlebt.

Am Sonntag fahren wir rund 300 km zum Einsatzort um ab Montag in einen fest gefügten zu verfallen. Alle drei Stunden tauche ich mit Dir im Schlepptau bei der temporären, mütterlichen Arbeitsstelle auf und ein Automatismus spult sich ab: Tür auf, Brust raus, Kind satt.

Zurück nach Düsseldorf bist Du dann das erste Mal geflogen. Wenig spektakulär hast Du entweder gegessen oder geschlafen und ich hatte Zeit mir einmal so einen Klapptisch ganz genau anzusehen.