Der 166./ 113. Monat – Mädchen

Es soll einfach nicht klappen. Der neue Camper wartet weiterhin auf seinen ersten Einsatz. Und dabei hat Leo einen so guten Plan. Auswärtsfahrt zu Fortuna nach Braunschweig. Eine formidable Idee, liegt doch ein Reisemobilstellplatz nur 15 Minuten zu Fuß entfernt an einem Schwimmbad. Somit perfekte Rahmenbedingungen für ein gelungenes Wochenende, entsprechendes Ergebnis im Eintrachtstadion einmal vorausgesetzt. Jeder Fußballfan weiß: Auswärtsspiele im Gästeblock sind stimmungsmäßig eine Klasse für sich. In dieser Saison haben wir das bereits in Karlsruhe und Kaiserslautern erlebt. Aus der Pfalz ist Leo allerdings mit sehr hängendem Kopf wiedergekommen. Auf jeden Fall gilt auch bei uns die alte Kurvenregel: „Wer danach noch Stimme hat, war nicht dabei.“ Mehr Emotion geht fußballerisch glaube ich nicht. Und genau diese Begeisterung versuchst Du auch Deiner Schwester beizubringen, denn die soll unbedingt mit. Ihr habt immer mal wieder Phasen, wo der jeweils andere unbedingt dabei sein muss, unabhängig davon, daß ihr Euch zwei Minuten vorher noch die Pest an den Hals gewünscht habt. Der Trip nach Niedersachsen ist so ein Stadium. Allerdings eher als Einbahnstraße, denn Sarah Sophie startet in den Monat, vorsichtig ausgedrückt, etwas behäbig.

Lustlos wäre noch dynamisch ausgedrückt. So kenne ich Dich überhaupt nicht. Aber wenn Du etwas machst, machst Du es richtig – bedeutet zwangsläufig Du möchtest aktuell einfach das große Nix. Leo versucht alles und präsentiert ein Schwimmbad, in dem Du zwar noch nie gewesen bist, in buntesten verbalen Farben. Hilft aber alles nichts und Sarah Sophie zieht sich die sprichwörtliche Decke über den Kopf.

Leo haucht mir ein flüsterndes „Mädchen!“ zu und schaut lieber wie man vom Schwimmbad zum Stadion kommt. Das darfst Du Dir aber kurze Zeit später eventuell für die kommende Saison überlegen, da sich die Termin-App Deines Fußballvereins gerade meldet und am Braunschweig-Samstag dein eigenes Auswärtsspiel für 11:30Uhr vermeldet. Umgehender Planungsstopp zwangsläufig inklusive. Der Camper bleibt geparkt.

Anderes Wochenende – andere Herausforderung:

Wir sind zur Konfirmation der Tochter unserer Freunde eingeladen. Eine Tagesveranstaltung mit Kirche, Restaurant und Gartenparty. Sarah Sophie wiegelt direkt ab. „Wieso muss ich in eine Kirche? – Das Restaurant kenne ich nicht! – Was soll ich bei denen im Garten machen? – usw.“. Ich sag mal Totalverweigerung beschreibt die Lage wohl ganz treffend. Zumindest möchtest Du wissen was denn eine Konfirmation überhaupt ist. Ich erkläre artig und hoffe inständig auf Belebung der Aktivitätsbereitschaft. Völlig vergeblich. Es fruchtet nichts. Also Steigerung: Der Hinweis, das zu einer solchen Veranstaltung durchaus feiner Zwirn getragen wird und Du selbstverständlich nicht in demselben Abendkleid wie zu Mias Bat Mizwa gehen kannst, wir also ein Neues erwerben müssen. Auf den Gästelisten beider Festlichkeiten sind wir übrigens die einzige Überschneidung, aber das muss hier jetzt ignoriert werden, denn die Lage ist ernst. Die Idee findest Du wiederum gut, wird auch in die Tat umgesetzt, hält das Bereitschaftskaliber aber nur bedingt hoch.

Kurzfristig denken Eure Mutter und ich über die Möglichkeit „Kraft autoritärer Willkür“ nach.

Zwischenzeitlich kommt Leo mit dem Fortuna-Spielplan um die Ecke und erkundigt sich, wann das denn genau ist. Jetzt heißt es umschalten, hier kommt die nächste Baustelle. Während der Zeremonie in der Kirche solltest Du mit Deiner Mannschaft zum Ligaspiel auf dem Platz stehen und zeitgleich zur Ansetzung des Mittagessen empfängt Fortuna vor ausverkaufter heimischer Kulisse den FC Schalke 04. Volltreffer, aber leider daneben. Vorsichtshalber führen wir dieses Gespräch unter vier Augen, damit Du nicht erneut versuchst Deine Schwester mit ins Boot zu holen. Ich gelobe mich mit Deiner Mutter zu beraten wie die missliche Lage zu beheben ist. Also zeitnahe ergebnisoffene elterliche Beratschlagung.

Eure Mutter argumentiert pragmatisch: “Es reicht doch völlig, wenn Du mit Sarah Sophie in die Kirche gehst.“ Sie dann mit Leo zum Fußball und zu Fortuna geht er eben mit jemand anderem. Und den hat sie sich auch schon ausgeguckt. Mein Kumpel Andy, der sei ja auch Fortuna-Fan. Ab Restaurant ist sie dann dabei. Noch bevor ich dagegen argumentieren kann, daß wir das ebenso mit genau umgedrehter Elternbeteiligung über die Bühne gehen lassen können, ruft sie Andy an und fragt nach was er denn davon hält eine Karte für das ausverkaufte Spiel gegen Schalke zu bekommen? Kurze Situationsbeschreibung und die Sache ist erledigt. Warum man ein solches Topspiel nicht auf 20:30Uhr legt weiß wohl nur der DFB.

Konfirmation vs. Kicken gucken, Mai 2025, Düsseldorf, D

Zurück zum anderen Kind. Ein paar Tage später bekommt Sarah Sophie natürlich mit, daß Leo Kirche und Kulinarik erspart bleiben und möchte auf einmal unbedingt auch ins Stadion gegen den Ruhrpottclub. “Ausverkauft“ zählt natürlich nur begrenzt als Argument, schließlich könne sie als Dreizehnjährige durchaus alleine mit dem kleinen Bruder ins Station. Ich sage doch immer, die Arena sei unser zweites Wohnzimmer und das dürfen ja Kinder nun wohl wirklich ohne elterliche Begleitung betreten. Beweisaufnahme geschlossen.

Es folgt ein alleiniges Mutter-Tochter-Gespräch mit dem Ergebnis, das Sarah Sophie freimütig einwilligt das gesamte Konfirmationsprozedere mitzumachen.

Einen Tag später kommt Du mit Deiner Mutter fröhlich von einer Shoppingtour und präsentierst stolz ein weiteres Kleid für die avisierte Veranstaltung. Auf meine Frage wozu man denn zwei Kleider für ein Ereignis braucht gibt lustigerweise Leo die Antwort: „Mädchen!“

„Mädchen!“, Mai 2025, Düsseldorf, D

Ungeklärt bleibt lediglich eine mögliche Verbindung zwischen den Einkäufen und dem vorangegangenen Gespräch. Aber das ist vielleicht auch gut so.

Und wir haben es sogar fast pünktlich in die Kirche geschafft, obwohl sich irgendjemand mehrfach umziehen musste. Aber das macht man doch nur, wenn man sich für etwas interessiert, oder?

Der 164.-165./ 111.-112. Monat – Verhandlungsmarathon

Nun haben wir doch tatsächlich einen neuen Camper. Nur verreisen möchte damit irgendwie keiner. Die Karnevalstage wären ein geeigneter Anlass, aber vor allem Sarah Sophie blockt strikt ab. Der Veedelszug in Gerresheim am Sonntag und besonders der große Rosenmontagszug sind nicht verhandelbar; zur großen Freude Eurer Mutter und mir. Da geht nix. Alles was bleibt ist ein kurzer Testausflug um zu checken ob alles funktioniert wie es soll. Das tut es wie erwartet und nun steht ein nagelneuer Adria-Alkoven bei uns auf dem Hof und wartet auf Verwendung.

Rosenmontag, März 2025, Düsseldorf, D

Auch die Frühlingsferien sind schon gebucht und da hat sich Leo durchgesetzt. Du möchtest unbedingt All-Inclusive-Ferien mit ganz viel Wasserrutschen und hängst vor allem Deiner Mutter damit solange in den Ohren bis sie, bereits im vergangenem Herbst, zwei Wochen Ägypten im Kirmeshotel von Hurghada bucht. In der Anlage sind tatsächlich mehrere Fahrgeschäfte vom Rummel verbaut. Autoscooter unter Palmen. Wie weit kann man Kinderbespaßung eigentlich treiben?

Eure Interessenlage verläuft zunehmend divergent. Das ist nicht weiter verwunderlich, kommt doch bei Sarah Sophie altersbedingt immer mehr das Pubertier zum Vorschein und wir Eltern werden wahrscheinlich manchmal komisch.

Nach mehrmaligem – zu lautstarkem – Argumentationsaustausch haben wir uns für die sprichwörtliche lange Leine entschieden und gestehen Dir größtmögliche Autonomie zu. Sowohl in schulischer wie auch persönlicher Hinsicht. Bedeutet konkret, Du bestimmst Deine Lernzeiten individuell, es treibt dich keiner mehr an Termine einzuhalten und so weiter. Das Ganze ist erstmal bis zum nächsten Zeugnis begrenzt und selbiges gilt vereinbart als Gradmesser für alles folgende. Ich gebe zu das Projekt fällt mir extrem schwer aber ich habe versprochen mich daran zu halten.

Und um das Ganze dann gleich mal auf die Probe zu stellen, darfst Du dich auch noch um deinen Bruder kümmern. Das liegt daran, daß unsere Palermopläne nicht vom Tisch sondern aktuell wieder darauf liegen. Etwas anders zwar, aber die Insel bleibt. Es wird jetzt allerdings eine Wohnung oder Haus in der Altstadt von Palermo, gekoppelt an den Umstand in der dortigen Marina ein etwas größeres Boot als unser aktuelles liegen zu haben. Angepeilter Umzug ist Leos Abitur, also in rund 9 Jahren, bis dahin wird die Hütte vermietet. Der Verhandlungsmarathon zwischen Eurer Mutter und mir hatte schon was von Geschacher auf dem Basar. Aber jetzt steht der Plan. Zumindest theoretisch. Um das dann auch in die Praxis umzusetzen, fliegen Eure Mutter und ich wieder für drei Tage nach Palermo zum Immoshopping.

Die eigentliche Idee war natürlich das Eure Großeltern in der Zeit wieder bei uns wohnen, nur kollidiert dies aber nun mit der beschriebenen langen Leine und stellt auch keine wirkliche Verhandlungsmasse zwischen Euch und uns da. Leo ist vollumfänglich auf Sarah Sophies Seite und adaptiert ganz nebenbei ihre neu erworbenen Freiheiten ohne Rücksicht auf viereinhalb Jahre Altersunterschied. Ihr kommt völlig alleine klar und die Großeltern euch nicht ins Haus. Soweit die Ausgangslage. In unzähligen „Wir-müssen-nochmal-mit-Euch-reden-Abendessen“ verhandeln wir eine großelterliche Minimalversorgung, die sich konkret darauf bezieht, daß sie lediglich dafür Sorge tragen, daß Leo morgens pünktlich das Haus verlässt um den Schulbus zu erwischen.

Puh. Geschafft!

Nicht geschafft haben wir dann aber leider den Immobilienkauf. Einige Wohnungen fielen geographisch durchs Raster, andere nach Besichtigung. Einzig ein hübsches kleines Eckhaus direkt ums Eck des Ballarò-Markt hat es uns angetan. Hier haben wir zwar nicht drei uneinige Schwestern als Verkäuferinnen wie vor einem Jahr in Porticello, dafür aber einen seit Jahren verschwundenen Besitzer des Ladenlokals im Erdgeschoss, welches nicht Bestandteil des Kaufes ist, wir dieses aber gerne dazu erworben hätten. Eine Eigentümergemeinschaft mit einem Geist scheint mir wenig verlockend. Also kommen wir unverrichteter Dinge wieder nach Hause um Euch strahlend vorzufinden weil zeigend, daß ihr alles alleine gemeistert habt. Und ich erwähne den Anruf von Sarah Sophie auch rein protokollarisch in dem die Frage aufkeimte, wie denn der Rauchmelder in der Küche abzustellen sei. Da muss es wohl eine entsprechende Korrelation mit einem Spiegelei gegeben haben. Aber hier greift natürlich die vereinbarte lange Leine. Wahrscheinlich hast Du mit genau dieser auch das piepsende Ding in der Küche ausgestellt. Ich bin ja schon still.

Still ist übrigens dann das nächste Gefeilsche auch nicht gerade. So sehr sich Leo nun für die Frühlingsferien einen All-Inclusive-Urlaub wünscht, so wenig kann Sarah Sophie damit etwas anfangen. Aufkommende Unzufriedenheit trifft auf angenommene Geschwisterbevorzugung. Ich erwarte herausfordernde Konferenzen. Sarah Sophie skizziert kurz ihre “Wünsch-dir-was-Liste“ und die sieht wie folgt aus:

Kairo ist natürlich Pflicht, weil Hauptstadt und dadurch gesetzt. Eine Quadtour durch die Wüste unabdingbar, da naheliegend. Pyramiden gucken ein absolutes „must have“, weil in Nachbarschaft zu Kairo, zählt also nicht extra. Tauchkurs im Prinzip obligatorisch, was soll man denn sonst am Roten Meer machen.

Damit haben wir den gewünschten Maßnahmenkatalog vorliegen und schonmal die Flüge von Hurghada nach Kairo gebucht. Alles weitere vertagt die Mutter-Tochter-Versammlung auf Lokaltermine vor Ort. Leo schüttelt ablehnend den Kopf und lässt sich bei mir rückversichern, daß das Hotel einen Fußballplatz und ausreichend Wasserrutschen bereit hält und kommentiert lediglich jovial „Papa, wir haben ja schon alles. Wir bleiben einfach im Hotel.“ Das habe ich befürchtet.

Die Frühlingsferien verlaufen abzusehend. Wir kommen gegen 11 Uhr im Hotel an und Leo braucht unter 30 Minuten um ein paar Jungs zum Fußballspielen zu finden und ist ab diesem Moment einfach weg. Praktischerweise liegt das Fußballfeld zwischen Pool und Restaurant, daher kann man dich mittags dort einfach einsammeln.

Fußballferien am Roten Meer, April 2025, Hurghada, EGY

Und zum Thema Verhandlungskompetenz liegen Mutter und Tochter offenbar auf Augenhöhe. Der Tauchkurs ist Sarah Sophie zu langwierig, da drei Tage dauernd und somit raus.

Ansonsten wart ihr in Kairo, bei den Pyramiden von Gizeh, habt eine Quadtour gemacht und dreimal auf Shoppingtour in der Altstadt von Hurghada. Das scheint also alles so an der lange Leine mit anzuhängen.

Flexible Altersauslegung zum Quad fahren, April 2025, Eastern Desert, EGY

Wahrscheinlich ist da wirklich was dran, wenn man sagt: Pubertät ist wenn Eltern komisch werden. Mein Urlaub bestand aus Pool und Rutschen. Aber G’tt sei Dank haben wir einen neuen Camper gekauft.

Der 163./ 110. Monat – Privilegien

Jeder der Ski fährt kennt solche Vögel. Mit maximaler Höchstgeschwindigkeit die Piste runterheizen aber mehr als ersichtlich nicht Herr der Lage sein. Und genau so ein Honk ist mir am vorletzten Tag der Winterferien ungebremst hinten aufgefahren, wodurch ich einen ordentlichen Satz nach vorne gemacht habe und meinen linken Oberschenkel mit Wucht auf eine Skikante platziert habe. Das Hämatom hat so ungefähr die Größe eines Tennisballs.

Mit einer wahrscheinlich etwas zu naiven Überzeugung habe ich wochenlang alle möglichen Salben ausprobiert bis mich Eure Mutter solange getriezt hat, doch einen Arzt aufzusuchen, der mich dann umgehend ins Krankenhaus zur Operation beordert. Das Ganze soll ambulant über die Bühne gehen, mit anschließendem Bewegungsverbot für mindestens zwei Wochen. Doch wir haben noch Glück im Unglück. Eure Mutter ist kurioserweise in den kommenden drei Wochen nahezu vollständig zu Hause und fühlt sich persönlich dazu berufen meine liegende Passivität penibel zu überwachen. Für den Hund kommt morgens und abends die Bekannte der Tochter einer Cousine der Freundin Eurer Babuschka vorbei, womit sich die Familienlogistik schonmal deutlich entspannt.

Eure Mutter kutschiert mich dann irgendwann zur OP und am gleichen Abend liege ich mit einer gefühlt gleich großen Beule am Bein wieder zu Hause. Artig absolviere ich die Nachsorgetermine und werde versichert, es sei alles in Ordnung. Das glaube ich dann nach einer Woche aber nicht mehr und der Beharrlichkeit Eurer Mutter geschuldet besuche ich den Orthopäden meines Vertrauens.

„Welcher Amateur hat das denn verbrochen?“ werte ich mal als geringfügige Kritik am Operateur. Der Doc telefoniert kurz und zwei Tage später liege ich beim Chefarzt unterm Messer. Erwähnte ich das Ulf der Mannschaftsarzt unserer launischen Diva Fortuna Düsseldorf ist? Offenbar hat hier ein Wort Gewicht. Ich glaube so fühlt sich privilegiert an. Das genieße ich jetzt einfach mal.

Die Sache hat nur einen kleinen Hacken. Diesmal will man wohl auf Nummer sicher gehen und behält mich gleich fünf Tage vor Ort fest. Ich weiß nicht mehr genau wie oft ich diesen Pistenproleten schon verflucht habe, jugendfrei war davon keiner. Das ist mal sicher.

Wieder zuhause darf ich zumindest an Krücken durch die Wohnung humpeln, aber Stadionverbot habe ich immer noch. Damit bekomme ich jetzt auch endlich den Bogen zu einer Kindergeschichte die das hier ja eigentlich ist. Zu jedem Heimspiel melde ich Leo brav als Einlaufkind für Fortuna an und bekomme genauso brav jedes Mal die gleiche Mail, daß es diesmal leider nicht geklappt hat und Du in der Verlosung leer ausgehst. Aber natürlich nicht wenn ich nichtsnutzig im Bett herumliege. Genau dann kommt die freudige Mitteilung:

Du bist dabei.

Also darfst Du jetzt bereits das zweite Mal in diesem Monat mit Deiner Mutter ins Stadion und ich gucke von zuhause aus zu. Das mit dem Verfluchen habe ich schon erwähnt, oder?

Leo (4.v.l.) als Fortuna-Einlaufkind, Februar 2025, Düsseldorf, D

Tja, und wenn Du mit Deiner Mutter ins Stadion gehst musst Du natürlich nicht schnöde mit der Straßenbahn fahren wie mit mir. Das Mutter-Sohn-Gespann parkt selbstverständlich auf dem VIP-Parkplatz direkt unter der Tribüne. Dafür haben wir zwar überhaupt kein Ticket, das interessiert Deine Mutter aber herzlich wenig. Lieber wedelt sie offenbar etwas zu schnell mit meinem Mitgliedsausweis umher, fragt nicht ob sie reindarf, sondern wo sie hin muss und hat freie Fahrt.

Da wird offenkundig auch jemand privilegiert behandelt – bleibt nur die Frage, warum ich dafür ins Krankenhaus muss?

Versöhnlich gestimmt hat mich aber zum Ende des Monats Eure gemeinsame Frage, ob denn das Bein wieder in Ordnung ist und ich wieder „richtig“ zuhause bin? Nachdem ich das bejahe folgt noch ein Kommentar von Sarah Sophie: „Leo, es gibt wieder richtiges Essen!“

Auch ein Privileg. Aber man kann ja nicht alles auf einmal haben. Oder doch?

Der 161.-162./ 108-109. Monat – Absurdistan

Winterferien, also Skifahren. Wir fahren schon wieder nach Neustift am Stubaier Gletscher. OK, so ganz große Begeisterung sieht anders aus ob der gewählten Destination. Aber hier kommen Eure Großeltern nunmal sehr einfach und komfortabel mit dem Zug hin; sie fahren nämlich wieder mit. Oder zumindest habe ich das geglaubt bis ein paar Wochen vor Abfahrt. Dann eröffnen sie uns, daß es für sie nach Vietnam geht und sie ihre Ferienwohnung storniert haben. Also im Prinzip ist uns die Ursache für den erneuten Tiroltrip schlicht abhanden gekommen. Auch gut. Ein paar Wochen vor den Winterferien noch einen alternativen Campingplatz über Sylvester zu finden kommt Lotto spielen gleich. Aber ich habe es artig versucht und erst nach der fünften Absage aufgegeben.

Eure Mutter sammeln wir in Stuttgart von der betrieblichen Weihnachtsfeier ein und sind am frühen Abend des ersten Ferientags vor Ort. Es hat ein bisschen was von „Täglich grüßt das Murmeltier“. Und zwar im doppelten Sinne. Im vergangenen Jahr fiel an bekanntlich gleicher Stelle die Heizung unseres Campers aus und wir haben uns mit diversen eilig zusammengekauften Heizlüftern beholfen. Die Heizung ist zwar zwischenzeitlich gegen eine neue ausgetauscht, hat auch probeweise im Herbst funktioniert, nur leider jetzt nicht. Praktischerweise haben wir die besagten Heizlüfter diesmal bereits dabei und somit fassen wir einen zweifachen Entschluss: Erstens sind die Skiferien gerettet und zweitens ist das definitiv der letzte Urlaub in unserem Reisemobil. Das Ding wird langsam eine Geldversenkungsmaschine, so viele Reparaturen waren in der letzten Zeit zu verzeichnen. 12 Jahre sind offenbar genug. Ich verbringe die Skibusfahrten ab sofort damit nach einem geeigneten Nachfolger zu forschen. Denn das wir wieder ein Wohnauto, wie das Gefährt bei uns immer noch seit Sarah Sophies frühkindlicher Bezeichnung heißt, brauchen, erklärt ihr beiden mir vehement. Das dürfte dann das Projekt für den Januar werden. Zum Ende der Ferien stehen drei Modelle zur Auswahl deren Besichtigung wir auf die ersten Wochen nach Rückkehr legen. Wer mir noch eine Woche zuvor gesagt hätte, daß wir einen neuen Camper kaufen, den hätte ich für völlig verrückt erklärt. So gilt im Hause Reichmann mal wieder das Prinzip „Was interessiert mich mein Gequatsche von gestern!“

Zurück nach Neustift.

Und da sind wir beim nächsten absurden Murmeltiereffekt: Leo möchte kein Snowboard fahren, sondern ausschließlich Ski. Das hatten wir doch schonmal. Wozu dann das neue Snowboard für Dich sein soll, bleibt wohl Dein Geheimnis. Eure Mutter versteht die Welt nicht mehr und Sarah Sophie mischt diplomatisch kräftig mit. „Leo braucht auf jeden Fall noch einen Kurs, er fährt die Kurven noch nicht richtig.“ lautet der fachfrauliche Rat aus der Schwesterecke, wohlwissend ignorierend das dieser Kenntnisstand knapp ein Jahr alt ist. Aber egal, einen drauf setzen geht bekanntlich immer. Normalerweise verlasse ich irgendwann diese absurden Diskussionsrunden weil der Hund genau dann zufällig gerade raus muss. Das ist besser für Euch und mich. Dummerweise hockt Emma gerade im Hundehotel 800 km entfernt. Pech gehabt, ich bleibe. Das ganze Palaver vergnügt uns den ganzen Abend und kommt doch tatsächlich irgendwann nach dem Abendessen zu einem gelungenen Abschluss.

Du willigst – sogar ernsthaft freiwillig – ein, die nächsten Tage zunächst gemeinsam mit Deiner Mutter und Schwester zu boarden um auszuloten wo noch Verbesserungspotentiale zu entdecken sind. Mir ist bis dato nicht bewusst, wie leidensfähig Du zu sein scheinst.

Ganz große Schwester, Dezember 2024/ Januar 2025, Stubaier Gletscher, AT

Das intrafamiliäre Lernexperiment bringt erstaunlichen Erfolg und Du verweigerst derart einen weiteren Snowboardkurs, daß Du dich sogar damit abfindest es genau bei dieser Konstellation zu belassen. Ich bin schwer verwundert. Im Endeffekt fährst Du in diesem Winter überhaupt kein Ski, sondern ausschließlich Snowboard. Wie Eure Mutter das angestellt hat möchte ich wahrscheinlich gar nicht wissen, aber am Ende gibt sogar seitens der schwesterlichen Großfachkompetenz fast nix mehr zu bemäkeln.

Dafür verordnet sich Sarah Sophie, daß Skifahren in einer Gruppe Gleichaltriger um Längen cooler sein dürfe als mit der langweiligen eigenen Mischpoke. Also gehst dann eben Du in die Skischule, die genau das anbietet. Es kann ja nicht sein, daß wir hier noch etwas sparen können. Urlaub grotesk.

Und zum Ende desselben, verkünden die Damen des Hauses in den kommenden Winterferien überhaupt nicht mit uns in die Berge zu fahren sondern stattdessen Sylvester in St. Petersburg zu verbringen. Das man dorthin aktuell zwar gar nicht direkt fliegen kann interessiert hier in Absurdistan selbstverständlich niemanden. Aber auch dafür gibt es natürlich eine Lösung: „Von der estnischen Hauptstadt Tallinn fährt ein Bus nach St. Petersburg.“ grinst Eure Mutter über das ganze Gesicht.

Das stimmt, damit bin ich sogar selbst schonmal gefahren. Ich glaube an der Grenze habe ich absurd lange gewartet, aber das passt ja dann ins Bild.

Gute Fahrt.

Der 159.-160./ 107-108. Monat – Faule Ferien und ein Filmstar

Oktober und November verhalten sich derart unaufgeregt, daß es genau genommen nur drei Unterfangen gibt.

Nummer Eins ist ein Graffiti-Workshop in Berlin an dem Sarah Sophie teilnimmt und zu dem Eure Mutter das spannendste Hotel überhaupt gebucht hat. Wir residieren in einer Art Jugendherberge umringt von zahllosen Schulklassen auf Klassenfahrt. Aber dafür mitten in Kreuzberg mit eigenem Parkplatz im Hinterhof. Das ist auch nicht schlecht. Und wir sind jetzt um die Erfahrung reicher in einem Zimmer mit vier Etagenbetten zu nächtigen. Ansonsten besuchen wir Freunde und holen uns unsere Dosis Berliner Luft ab, ohne die es bekanntlich in unserer Familie nicht geht. Berlin mal wieder abgehakt.

Graffiti-Workshop, Oktober 2024, Berlin, D

Nummer Zwei sind die faulsten Ferien überhaupt. In den Herbstferien geht es mal wieder nach Sizilien. Üblicherweise starten wir hier eigentlich einen Roadtrip und juckeln gemütlich auf der Insel umher. Diesmal ist aber anders. Ich habe einen recht imposanten Strand gefunden und einer der örtlichen Campingplätze hat freundlicherweise noch geöffnet, was nicht selbstverständlich um diese Jahreszeit ist. Kurioserweise ist die touristische Infrastruktur früher im Jahr geschlossen je weiter man in Italien nach Süden fährt oder anderes ausgedrückt auf Sizilien hat weit mehr als die Hälfte aller Camping- und Stellplätze schlicht geschlossen. Der eine an besagtem Strand in San Vito Lo Capo rund 100 km östlich von Palermo aber eben nicht und so landen wir hier. Und dann passiert gefühlt zwei Wochen gar nix. In der ersten Woche findet ihr schnell Freunde und vor allem Leo verbringt mit ebendiesen den ganzen Tag auf dem Fußballplatz. Konkret ist dies auch der eigentliche Grund warum wir hier hängen bleiben. Leo kann sich ordentlich auspowern was für den Familienfrieden in diesen Tagen mehr als förderlich ist. Ich nehme an man versteht was ich meine. Campingplätze mit Fußballplatz und Pool haben unschlagbare Vorteile.

Faule Ferien, Oktober 2024, San Vito Lo Capo, I

Somit verbringen wir viele Tage am Strand mit genüßlichem Nixtun und finden das auch gar nicht so schlimm. Sarah Sophie handelt noch zwei Tage Citytour in Palermo am Ende raus bevor es wieder auf die Fähre nach Genua geht. Herbstferien vorbei.

Und Nummer Drei: Sarah Sophie besucht seit einigen Monaten eine Schauspielschule und Leo kann es selbstverständlich nicht auf sich sitzen lassen in diesem Bereich nicht aktiv zu sein. Du gehst zum Film. Die Jüdische Gemeinde dreht einen Film zum Thema Mobbing und sucht einen Darsteller in deinem Alter. Daher begibst Du dich seit mehreren Monaten jeden Sonntag ans Set.

Ulkigerweise spielst Du ein Mobbingopfer was in etwa zu Deiner Persönlichkeit passt wie Tangotanzen zu Elefanten oder so ähnlich. Eine wie auch immer geartete „Opfermentalität“ ist dir glücklicherweise völlig fremd. Die große Schwester ist da durchaus helfend zu Stelle und gibt ausgiebig Ratschläge wie die Rolle anzulegen ist. Geprobt wird in den Kinderzimmern und Sarah Sophie brilliert in der Täterrolle. Zwischenzeitlich vergesst ihr fast, daß nur Leo in dem Film mitwirkt so erbaulich seit ihr zugange.

Leos Filmpremiere, November 2024, Düsseldorf, D

Im November ist alles abgedreht, geschnitten und es steht somit die Premiere in der Synagoge an. Zu dieser tauchen wir in vollständiger Familienstärke nebst Euren Großeltern auf. Die sind auch ordentlich verzückt ob deiner cineastischer Darbietung und verschicken in den kommenden Tagen den Downloadlink zum Film an gefühlt jeden der ihn haben will oder nicht. Selbst ich haben ihn nochmal von ihnen gemailt bekommen, wahrscheinlich um absolut sicher zu gehen, daß hier auch ja nichts verloren geht.

Trefflich behandelt ihr in der Schule jetzt gerade ebenfalls das Thema Mobbing. Und da ist der neue Filmstar als Experte natürlich direkt dabei. Und dank deiner Schwester kannst Du sowohl als Täter wie Opfer dein geballtes Wissen beisteuern.

Behalte Dir nur bitte deine verneinende Betrachtung zu Opferrollen bei. Ansonsten dreht Deine Mutter durch. Und dann ist hier ganz schnell doch was los. Und zwar richtig. Und das braucht ja nun wirklich niemand.

Der 158./ 106. Monat – Klassenfahrt II

Kurz nach den Sommerferien steht Leos erste Klassenfahrt nach Bad Sobernheim in Rheinland Pfalz an. Das ist Tradition in der vierten Klasse unserer Grundschule. Damit haben wir nur leider gar keine Erfahrung, da dieselbige zur Zeit von Sarah Sophies vierter Klasse damals coronabedingt ausgefallen ist und wir da damals etwas selbst organisiert haben. Daß dies nun auch schon wieder vier Jahre her ist erscheint mir schier unglaublich.

Also das übliche Prozedere. Elternabend mit Schwerpunkt „Klassenfahrt“ mit unfassbar schwer nachzuvollziehenden Fragen mancher Eltern; Listen mit unbedingt zu beachtenden und einzupackenden Dingen, welche man unzählige Male verlegt und Diskussionen in der Eltern-WhatsApp-Gruppe, die mich mehrfach an der Schwarmintelligenz in eben diesem Zwangskollektiv zweifeln lassen. Mir fällt Anfang des Monats schlagartig ein, das wir noch bezahlen müssen, erledigen dies aber artig und ich schmunzle noch über den Satz in der Anmeldung „Eine Stornierung ist nach der Anmeldung möglich, eine Kostenerstattung erfolgt aber nicht.“ Also eigentlich alles normal.

Mir ist es nichtmal im Traum in den Sinn gekommen, daß wir darüber sprechen könnten, Dich nicht an der Klassenfahrt teilnehmen zu sehen. Und genau dies ist das ganz große Thema in diesen Tagen. Oder anders ausgedrückt: Leo will nicht. Niemals, nein, auf keinen Fall.

Ich bin sprachlos und weiß nicht wirklich wie ich reagieren, geschweige denn helfen kann. Du hast gegenwärtig ohnehin schwer „nah am Wasser“ gebaut. Du wachst nachts auf, weinst und bist nicht in der Lage zu erklären wieso und warum. Das Ganze wird davon abgerundet, daß Eure Mutter für über zwei Wochen durchgängig in Thailand weilt. Der große Junge mit der noch größeren Klappe ist von jetzt auf gleich ganz klein. Ich verbringe folglich einen Großteil der Zeit damit Dich zu trösten und Deiner Schwester begreiflich zu machen, vielleicht etwas leiser die ein oder andere Spitze gegen Dich zu schießen. Ich habe mich schonmal wohler gefühlt und die fünf Stunden Zeitunterschied in Richtung Bangkok machen abendliche Videocalls von Leo und Eurer Mutter nicht einfacher.

Ich versuche also irgendwie herauszubekommen warum Du partout nicht auf Klassenfahrt möchtest. Keine Chance, immer die gleiche Aussagen: „Ich möchte nicht. Ich weiß nicht warum.“ Alle deine Fussballkumpels aus der Schule fiebern dem Event entgegen und Du offenbar auch, aber eben nur in der Schule. Das weiß ich über einen Umweg. Da Du Montags nicht mit dem Schulbus nach Hause fährst, komme ich zwangsläufig mit anderen Eltern ins Gespräch. Der Vater eines Deiner Fußballjungs aus der Klasse berichtet mir wie ihr augenscheinlich schon die verschiedenen Tage durchplant und ist sehr darüber verwundert, als ich erwähne nicht garantieren zu können, ob Du überhaupt mitfährst. Somit weiß ich noch weniger als bisher. Großartig.

Sarah Sophie ist unterdessen damit beschäftigt unaufhörlich davon zu berichten wie phänomenal ihre erste Klassenfahrt auf dem Gymnasium in der sechsten Klasse war. Nach einer weiteren Woche einigen wir uns auf so eine Art abwartenden Kompromiss. Du bleibst angemeldet und wir verschieben die Deadline für eine eventuelle Absage auf den vorletzten Schultag, also den Freitag vor Tourstart. Bleibt noch zu klären, was eigentlich mit den Kindern passiert, die nicht mit auf Klassenfahrt gehen. Da alle drei der vierten Klassen gemeinsam fahren, scheidet der Besuch einer Parallelklasse aus und Du dürftest in eine der dritten Klassen wandern. Das begeistert weder Dich noch mich.

Doch hier brauche ich mich um nichts zu kümmern: „Papa, ich hab’s! Ich werde krank, wir fahren zum Boot und wir machen diese Tour zu den Burgen am Rhein von denen wir gesprochen haben! Cool, oder?“ „Gewiss!“ entgegne ich. Scheitert nur an drei Umständen: „Erstens wäre Sarah Sophie dann eine Woche alleine, da ich weiß das Eure Mutter irgendwo aushäusig umherwerkelt. Zweitens melde ich Dich nicht einfach so für eine ganze Woche krank und drittens fandest genau Du meine „Boot & Burgen“-Idee im letzten Sommer total doof, falls ich Dich daran erinnern darf. Argument eins wiegelt Sarah Sophie unter Verweis auf die Lieferando-App auf ihrem Telefon ab, Nummer zwei wird gekonnt hüstelnd übersprungen und an Verhaltensäußerungen zu Punkt drei kann sich auf einmal niemand mehr erinnern.

Die Verhandlungen stocken somit und der Hund muss dringend raus. Das muss er in letzter Zeit immer öfter wenn erzieherische Konferenzen unterbrochen werden. Ich vermute da einen Zusammenhang.

Nächster Tag, neues Glück: Du springst aus dem Schulbus und präsentierst mir stolz den Zimmerbelegungsplan. Es gibt nur ein Sechserzimmer in dem Haus und wer hat das bekommen? Natürlich die sechs Fußballjungs mit dem zukünftigen 9er der deutschen Nationalmannschaft.

„Also fährst Du doch mit auf Klassenfahrt?“ frage ich. Kurze Antwort: „Natürlich, Papa. Wir haben jetzt schon den Zimmerplan gemacht. Ich kann die Jungs doch jetzt nicht hängenlassen. Wir sind ja praktisch eine Mannschaft!“ „Natürlich nicht!“ stimme ich zu. Zwei Wochen Palaver und Bangen sind ab sofort beendet. Masel tov.

Das 6er-Zimmer mit dem 9er, September 2024, Düsseldorf/ Bad Sobernheim, D

Mit den Worten „Und die Bootstour zu den Burgen machen wir aber auch noch. Wir schauen jetzt direkt wann. Komm Papa.“ ziehst Du mich zur Haustür.

Wahrscheinlich muss der Hund jetzt nie mehr raus. Gute Fahrt, mein großer 9er.

Der 157./ 105. Monat – Ankerbier

Diese Sommerferien bleibt es beim „Alles ist anders“. Wir ziehen sozusagen weiter nach Norden. Irgendwann kommt Eure Mutter mit der Idee um die Ecke zwischen den schottischen Hebriden umhersegeln zu wollen. Konkreter gesagt uns segeln zu lassen.

Aber der Reihe nach: Ihr befreundeter Arbeitskollege Uwe hat einen Studienfreund namens Stefan und der wiederum besitzt die „Lady of Avenel“, einen 102ft-Zweimaster den er samt Crew für eine Woche in den Sommerferien an Arbeitskollege Uwe und uns verchartert. Aktueller Liegeplatz ist Castlebay, Insel Barra, Schottland, Nordostatlantik. Klinkt schon kalt, aber spannend, oder?

Eure Mutter platzt an irgendeinem Frühstück mit der fröhlichen Nachricht über Euch herein, nachdem sie das Ganze immerhin am Vorabend mit mir besprochen hat, immer versehen mit dem Hinweis: „Ist mal was anderes. Ich kann Uwe aber jederzeit absagen.“ Was soviel heißt wie: „Wie holen wir Euch für das Projekt ab?“

Das geht überraschend simpel, da Sarah Sophie folgert, wenn man schon auf der größten britischen Insel ist bleibt einem natürlich nicht anderes übrig als zwangsweise ein paar Tage in London bleiben zu müssen. Unmittelbar gefolgt von Leos Fundamentalblockade. Mehrtägige Stadtaufenthalte sind derzeit ausschließlich mit Stadienbesuchen denkbar. Während Sommerpause in der Scottish Premiership also schwierig. Du bist so sehr damit beschäftigt uns London auszureden, das du die hinreichende Bedingung für London komplett außer Acht lässt. Das ist mein Ansatzpunkt, Ablenkung ist also das Gebot der Stunde und ich verklickere Dir folgende Idee.

Nach dem Segeltörn fahren wir nach Glasgow, schauen uns nach einem Trikot von Celtic oder den Rangern um und setzen Deine Schwester und Mutter ins Flugzeug. Die Damen fliegen dann nach London, wir und Emma Richtung Newcastle, gehen dort auf die Fähre nach Amsterdam und sind am nächsten Vormittag bereits auf unserem Boot am Leukermeer. Wird aber noch besser: Das erste Rückrundenspiel von Fortuna ist genau an diesem Sonntag um 13:30 Uhr. Das können wir problemlos gucken, während wir auf die Fähre warten. Strahlende Augen. „Papa, daß hast Du Dir aber sehr gut überlegt. Genau so machen wir das. Dann ist das ja sogar doppelter Jungsurlaub auf zwei Booten. Der Fähre und unseres. Super!“ Von dem Segeltörn davor habe ich nichts mehr gehört und werte das als stillschweigende Zustimmung.

Lady of Avenel, August 2024, Oban, SCO

Emma braucht noch irgendeine Behandlung um ins Vereinigte Königreich einreisen zu dürfen und dann geht es auch schon los. Erst zu unserem Boot, in der irrtümlichen Annahme dort liegen die Neoprenanzüge von Euch. Dafür ernte ich noch bitterböse Vorwürfe in ein paar Tagen. Dann weiter in die Nähe von Amsterdam. Von hier auf die Nachtfähre nach Newcastle an die englische Ostküste kurz vor der schottischen Grenze. Einen Tag verbringen wir in Edinburgh was Leo überraschend gut erträgt. Ich vermute einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Essen. In einem Vorort spült es uns an eine wohlgerühmte Lobsterbude die aber natürlich auch „Fish and Chips“ bereithält, Dein von nun an bevorzugtes oder besser gesagt ausschließliches Essen ist.

„God save the King!“

Von Edinburgh geht es nach Oban an der schottischen Westküste wo wir abermals eine Fähre besteigen. Diesmal ohne Auto, das bleibt hier, denn in Oban endet unser Segeltörn wieder. Abends landen wir dann in Castlebay auf Barra an und setzen mit dem Dingi auf den Zweimaster über. Emma muss an der ein oder anderen Gangway und Treppe noch etwas geschoben werden, meistert aber schließlich alles.

Schiffshund Emma, August 2024, Tobermory, Isle of Mull, SCO

Wir beziehen unsere Kajüten und bunkern aus dem letzten Supermarkt für eine Woche noch ein paar Schachteln Bier. Die Crew ist über Leos einseitiges Speiseverhalten informiert und hält genügend Fish diesmal ohne Chips bereit. Fritteusen auf Segelschiffen sind wahrscheinlich keine gute Idee. Am nächsten Tag geht es los. Bestes Wetter, kein Wind daher sind wir zunächst unter Motor unterwegs. Das ändert sich aber glücklicherweise.

Die Tage ziehen dahin, kreuz und quer durch die Hebriden. Wir haben jedes Wetter und jeden Seegang dabei. Besonders von Letzterem kann Eure Mutter berichten, aber ich nicht hier das habe ich versprochen. Leo hat in den ersten Tagen überhaupt keine Zeit sich zu beschweren, da es mehrmals täglich seitens der Crew über Deck erklingt: „Leo! Rigging the sails!“ Tja, der kleine Seemann muss nämlich mit anpacken. Du schlägst dich wacker und es wird gezogen, was die Leinen hergeben. Das ist natürlich nicht so ganz ernst gemeint und es steht immer ein Mitglied der Crew hinter dir.

Leichtmatrose Leo, August 2024, Castlebay, Isle of Barra, SCO

Erst nach drei Tagen fällt dir auf, daß deine Schwester hingegen offenbar direkt zum Steuermann befördert wird. Sarah Sophie steht ausnahmslos mit oder ohne Skipper am Ruder. Hier ist nix mit Matrosentätigkeit. Da wird gleich Kurs gehalten.

Sarah Sophie steuert die „Lady of Avenel“, August 2024, Hebriden, SCO

Das lässt Du natürlich nicht auf dir sitzen und am folgenden Tag steht „Käpt‘n Rotzlöffel“ am Steuerrad. Den Namen hast Du bereits vom ersten Tag an weg, wahrscheinlich ob Deiner zurückhaltenden Art Dich zu beschweren.

Käpt‘n Rotzlöffel, August 2024, Hebriden, SCO

Unser Skipper meint sogar „Bei soviel Inbrunst kann er auch schon beim Ankerbier dabei sein.“ Das wolltest Du dann aber doch nicht, weil Dir einfach nicht erklärlich zu machen ist, wieso ein Anker nur hält, wenn es genug Ankerbier gibt. Macht aber nix, das versuche ich dann nochmal wenn wir auf eigenem Kiel in Holland sind.

Denn Ankerbier habe ich für mich aus Schottland mitgenommen. Das gibt es ab sofort bei uns an Bord auch.

Slàinte Mhath.